OLG Hamm, Beschluss vom 26.10.2018 - 7 U 56/18
1. Jedenfalls soweit es sich um gut sichtbare Grundstücksausfahrten handelt, bei denen mit erhöhtem An- und Abfahrtsverkehr zu rechnen ist, spricht viel dafür, die - für die Sorgfaltsanforderungen bei der Vorbeifahrt an Fahrzeugkolonnen entwickelte - sog. Lückenfallrechtsprechung anzuwenden.
2. Die Vorbeifahrt an einer Fahrzeugkolonne im Bereich einer derartigen Ausfahrt mit mindestens 35 km/h ist erheblich zu schnell.
3. Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge zwischen dem Geschwindigkeitsverstoß des an der Kolonne Vorbeifahrenden und dem Verstoß des durch die gelassene Lücke Einfahrenden, der sich entgegen § 10 StVO nicht hinreichend nach links vergewissert hat, ob sich von dort bevorrechtigte Verkehrsteilnehmer näherten und sich zu dem auch nicht vorsichtig in die gegenüberliegende Fahrspur hineingetastet hat, wiegt der Verstoß gegen die Kardinalpflicht des § 10 StVO schwerer.
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gem. § 522 Abs. 2 ZPO durch einstimmig gefassten Beschluss zurückzuweisen, da sie nach einstimmiger Ansicht im Senat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist, der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und eine Entscheidung des Berufungsgerichts auch nicht der Fortbildung des Rechts oder der Einheitlichkeit der Rechtsprechung dient.
Der Klägerin wird Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen gegeben.
Gründe
I.
Die Klägerin verlangt von den Beklagten restlichen Schadensersatz im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfallereignis von Mai 2016.
An dem Unfall beteiligt waren ein durch die Klägerin geleaster VW U, welcher am fraglichen Tag von dem Zeugen L gefahren wurde, sowie der vom Beklagten zu 1) gefahrene Pkw vom Typ Renault U2.
Der Zeuge L kam von einem Parkplatzgelände einer McDonald´s Filiale in M an der C-Straße und beabsichtigte, von dort aus nach links zu fahren. Auf der auf seiner Seite befindlichen Fahrspur hatte sich hinter einer Ampel ein Rückstau gebildet, wobei im Bereich der Ausfahrt eine Lücke gelassen worden war, durch die er sich nach links einfädeln wollte. Der Beklagte zu 1) befuhr ebenfalls die C-Straße in Richtung der Ampel und befand sich zunächst hinter dem Rückstau. Da er noch vor der Ampel nach links zu einem Getränkemarkt abbiegen wollte, entschloss er sich, die wartenden Fahrzeuge links unter (teilweiser) Benutzung der Gegenfahrspur zu überholen; hierbei überfuhr er eine durchgezogene Linie.
Der Kläger fuhr vom Parkplatzgelände aus in die Lücke und hielt zunächst vor der durchgezogenen Linie. Dort vergewisserte er sich nach rechts, dass von dort keine Fahrzeuge kamen. Er fuhr los und erreichte mit der Fahrzeugfront die Gegenfahrspur. Als er sodann nach links schaute, erblickte er den herannahenden Beklagten zu 1). Beide bremsten, es kam jedoch zur Kollision.
Die Klägerin, die nach dem Leasingvertrag zur Geltendmachung aller fahrzeugbezogenen Ansprüche aus einem Schadensfall berechtigt ist, hat das Fahrzeug reparieren lassen und die Beklagten vorgerichtlich zur vollumfänglichen Regulierung ihrer Schäden aufgefordert.
Die Beklagte zu 2) hat mit Ausnahme zweier Positionen aus der Reparaturrechnung (Kältemittel und Verbringungskosten) sowie der Kostenpauschale sämtliche geltend gemachten Schadenspositionen mit einer Quote von 50 % reguliert. Nachdem die Klägerin die Beklagte mit anwaltlichem Schreiben zu weiteren Zahlungen - u. a. auch zur Begleichung der Kostenpauschale - auffordern ließ, erfolgte eine weitere Zahlung von Seiten der Beklagten zu 2) auf die Kostenpauschale in Höhe von 12,50 €.
Die Klägerin hat vorgetragen, der Beklagte zu 1) habe verkehrswidrig mit hoher Geschwindigkeit die wartenden Fahrzeuge überholt. Der Zeuge L habe mit einem derartigen Fahrmanöver nicht rechnen können. Für ihn sei der Unfall unabwendbar gewesen; jedenfalls hafteten die Beklagten wegen des erheblichen Verkehrsverstoßes des Beklagten zu 1) zu 100 %. In der mündlichen Verhandlung vom 26.06.2018 hat die Klägerin erklärt, auf 50 % der noch streitigen Positionen Kältemittel und Verbringungskosten zu verzichten.
Die Beklagten haben die Ansicht vertreten, den Zeugen L treffe ein Verstoß gegen § 10 S. 1 StVO und damit ein erhebliches Mitverschulden an dem Unfall. Die Verbringungskosten seien hinsichtlich eines Teils nicht erstattungsfähig; das im Rahmen der Reparatur ersetzte Kältemittel hätte wiederverwendet werden können, so dass auch diese Position von ihr nicht zu ersetzen sei. In der mündlichen Verhandlung vom 26.06.2018 haben die Beklagten die beiden noch streitigen Positionen Kältemittel und Verbringungskosten hälftig unstreitig gestellt.
Das Landgericht hat Beweis erhoben durch die Vernehmung von Zeugen sowie Einholung eines verkehrsanalytischen Sachverständigengutachtens.
Sodann hat es mit angefochtenem Urteil, auf dessen Tatbestand wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes bis zum Abschluss der ersten Instanz einschließlich der gestellten Anträge gem. § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird, die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagten hafteten zwar gemäß § 7 Abs. 1 StVG, 115 VVG. Bei der anzustellenden Abwägung ergebe sich allerdings aufgrund eines erheblichen Sorgfaltspflichtverstoßes des klägerischen Fahrers keine Haftung von mehr als 50 %. Für beide Fahrer sei der Unfall nicht unabwendbar gewesen. Ein Idealfahrer in der Situation des Zeugen L hätte den Unfall vermeiden können, indem er während des Einfahrens nach links geschaut und den Einfahrvorgang abgebrochen hätte. Darüber hinaus hätte ein Idealfahrer nicht die durchgehende Fahrbahnmarkierung überfahren. Auch wäre ein Idealfahrer vorsichtig und zunächst zentimeterweise in die Gegenfahrbahn eingefahren. Der Beklagte zu 1) sei nicht wie ein Idealfahrer gefahren, da dieser an den wartenden Fahrzeugen unter Queren der durchgehenden Fahrbahnmarkierung vorbeigefahren sei. Im Rahmen der Abwägung sei davon auszugehen, dass die erhöhte Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs neben dem Sorgfaltspflichtverstoß auf Klägerseite jedenfalls nicht mehr als hälftig ins Gewicht falle. Wegen des feststehenden Unfallhergangs komme es auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises im Zusammenhang mit den Sorgfaltspflichten aus § 10 StVG nicht an. Dieser fordere, dass der Wartepflichtige sich vorsichtig und schrittweise in den fließenden Verkehr hineintaste, wenn er an einer Grundstücksausfahrt durch eine Lücke in einer Kolonne zwischen den wartenden Fahrzeugen auf die Gegenfahrbahn zu fahren beabsichtige. Der in den fließenden Verkehr Einfahrende dürfe diesen nicht behindern, was selbst dann gelte, wenn der Unfallgegner seinerseits verkehrswidrig die Gegenfahrbahn befahre. Auf Seiten des Klägers falle zudem negativ ins Gewicht, dass er mit einer Geschwindigkeit von 8-10 km/h gefahren sei und zudem nach eigenen Angaben die dortige Verkehrssituation kenne. Mit dem Verkehrsverstoß des Zeugen L sei der Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1), der in unklarer Verkehrslage trotz Verbots nach § 7 Abs. 3 Nr. 1 StVO über die durchgehende Fahrbahnmarkierung hinweg in besonders risikobehafteter Weise die wartenden Fahrzeuge auf der Gegenfahrbahn überholt habe, gleichwertig. Der Beklagte sei mit einer Geschwindigkeit von mindestens 35 km/h - in Ansehung der "Lückenfall-Rechtsprechung" - außerdem zu schnell gefahren.
Nachdem die Klägerin hinsichtlich des verbliebenen Teils der noch streitigen Positionen Kältemittel (1/2 von 51,56 €) sowie Verbringungskosten (1/2 von 40,- €) den Verzicht erklärt habe, sei die Klage auch im Hinblick hierauf entscheidungsreif und entsprechend der beurteilten Quote abzuweisen gewesen. Mangels Bestehens eines weitergehenden Hauptanspruchs habe die Klägerin auch keinen Anspruch auf die geltend gemachten Nebenforderungen.
Dagegen richtet sich die Klägerin mit Schriftsatz vom 12.07.2018, mit dem sie nach Benennung der Parteien und deren Prozessbevollmächtigter Berufung gegen das "Urteil des Landgerichts Hagen vom 26.06.2018" einlegt. Entgegen der Ankündigung in der Berufungsschrift lag dem Schriftsatz eine Ausfertigung des erstinstanzlichen Urteils nicht an.
Die Klägerin erstrebt mit der Berufung - anders als erstinstanzlich - nicht mehr eine Verurteilung der Beklagten zu weiterem Schadensersatz nach einer Quote von 100 %, sondern nach einer Quote von 80 % sowie Freistellung von vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltsgebühren nach einem entsprechenden Gegenstandswert. Zur Begründung führt sie aus, nach dem Gutachten stehe zwar fest, dass der Unfall für den klägerischen Fahrer nicht unabwendbar gewesen sei; dies habe zur Folge, dass die Betriebsgefahr des klägerischen Pkw mit 20 % zu berücksichtigen sei. Ein Verschulden des klägerischen Fahrers sei aber nicht erwiesen. Allein der Umstand, dass der Zeuge L nicht nach links gesehen habe, führe nicht zur Annahme eines Verschuldens und damit zu einer Quote von 50 / 50. Dieser Gesichtspunkt betreffe ausschließlich die Frage der Unabwendbarkeit. Ein Blick nach links sei aufgrund der durchzogenen Mittellinie nicht erforderlich gewesen. Mit einem Überholen unter Verstoß hiergegen und zudem bei der gegebenen unklaren Verkehrslage habe er nicht rechnen müssen. Abgesehen von dem fehlenden Blick nach links habe sich der Zeuge auch äußerst vorsichtig in den fließenden Verkehr durch die eröffnete Lücke getastet. Soweit demgegenüber von wechselseitigem Verschulden ausgegangen werde, wäre jedenfalls das Verschulden der Beklagten zu 1) als weit überwiegend einzustufen. Nachdem in der letzten mündlichen Verhandlung klägerseits auf 50 % der nicht regulierten Verbringungs- und Kältemittelkosten verzichtet worden sei, stünden noch weitere 20,00 € und noch weitere 25,78 € im Streit.
II.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, aber nach einstimmiger Ansicht im Senat offensichtlich unbegründet.
1.
Der Zulässigkeit der Berufung steht es nicht entgegen, dass in der Berufungsschrift die Angabe des Aktenzeichens des angefochtenen Urteils fehlt. Zwar beinhaltet die vollständige Bezeichnung des Urteils i. S. d. § 519 Abs. 2 Ziffer 1 ZPO die Angabe der Parteien, des Gerichtes, das das angefochtene Urteil erlassen hat, des Verkündungsdatums und des Aktenzeichens (vgl. auch BGH, Beschluss vom 21.03.1991, Az. IX ZB 6/91, NJW 1991, 2081). Fehlt eine dieser Angaben, ist dies aber unschädlich, wenn dadurch keine unbehebbaren Identitätszweifel auftreten (BGH, Beschluss vom 25.02.1993, Az. VII ZB 22/92, NJW 1993, 1719). Vorliegend war durch die Nennung des entscheidenden Gerichts, des Verkündungsdatums, der Parteien sowie der erstinstanzlich tätigen Prozessbevollmächtigten auf beiden Seiten eine Individualisierung des angefochtenen Urteils unzweideutig möglich.
Dass der Berufungsschrift zudem - entgegen der darin enthaltenen Ankündigung - eine Ausfertigung des angefochtenen Urteils nicht beigefügt war, ist ebenfalls für die Wirksamkeit der Berufungseinlegung unschädlich, da § 519 Abs. 3 ZPO als "Soll-Vorschrift" bloße Ordnungsvorschrift ist (vgl. auch Heßler in: Zöller, ZPO 32. Auf. 2018, § 519 Rn. 38).
2.
Die Berufung ist aber offensichtlich unbegründet. Das Urteil des Landgerichts beruht weder auf Rechtsfehlern, noch rechtfertigen die gemäß §§ 529, 531 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere - für die Klägerin günstigere - Entscheidung.
Nach Einschätzung des Senats ist zwar die durch das Landgericht angenommene Haftungsquote von 50/50 nicht zutreffend, sondern der Senat hält eine Haftung der Beklagten von höchstens 40 % für gegeben (hierzu unter a)). Auch die Ausführungen des Landgerichts hinsichtlich der Schadenspositionen" Kältemittel" und "Verbringungskosten" sowie zu den vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren überzeugen nicht; dies führt aber aufgrund der vorgerichtlich durch die Beklagte zu 2) vorgenommenen (Über-)Regulierung nicht dazu, dass Ansprüche der Klägerin noch offen wären (hierzu unter b)).
a)
Die Klägerin hat gegen die Beklagten dem Grunde nach einen Anspruch gemäß §§ 7, 18 StVG, 115 Abs. 1 S. 1 Ziff. 1 VVG auf Regulierung der Unfallschäden, da der klägerische Pkw bei Betrieb des Beklagtenfahrzeugs beschädigt wurde und der Unfall für den Beklagten zu 1) nicht i. S. d. § 17 Abs. 3 StVG unabwendbar war. Da auch die Klägerin als Halterin des U für die Unfallfolgen haftungsrechtlich verantwortlich ist - der Unfall ereignete sich auch bei Betrieb des U und war, wie im Berufungsverfahren von Seiten der Klägerin eingeräumt, auch für den Zeugen L nicht unabwendbar - hängt gemäß § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVO die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.
Die Abwägung der Verursachungsbeiträge ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (ständige Rechtsprechung, vgl. statt aller BGH, Urteil vom 11.10.2016, Az. VI ZR 66/16, NJW 2017, 1177 unter Rn. 7).
aa)
Auf Seiten der Klägerin ist in die Abwägung ein erheblicher Verstoß gegen § 10 StVO einzustellen, welcher den von einem Grundstück auf die Straße Einfahrenden dazu verpflichtet, jede Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen.
Insoweit kommt es nicht darauf an, ob sich der Beklagte zu 1) seinerseits verkehrswidrig verhalten hat. Denn ein verkehrswidriges Verhalten des Berechtigten beseitigt seine Vorfahrt grundsätzlich nicht (OLG Hamm, Urt. v. 24.09.1991, Az. 9 U 9/91, NZV 1992, 238; OLG Hamm, Urt. v. 27.09.2000, Az. 13 U 80/00, zitiert nach beckonline; OLG Hamm, Urt. v. 20.10.2005, Az. 27 U 37/05, NZV 2006, 204; OLG Düsseldorf, Urt. v. 04.03.2014, Az. I-1 U 71/13, zitiert nach beckonline; OLG Düsseldorf, Urt. v. 09.02.2016, Az. I-1 U 50/15, zitiert nach beckonline). Vielmehr muss der Wartepflichtige, der durch eine freigehaltene Lücke nach links einbiegen möchte, regelmäßig auch damit rechnen, dass andere Fahrzeuge neben der haltenden Kolonne vorbeifahren (OLG Düsseldorf, Urt. v. 09.02.2016, Az. I-1 U 50/15, zitiert nach beckonline).
Der Zeuge L hätte sich daher wie jeder Wartepflichtige, der den bevorrechtigten Verkehr nicht einsehen kann, allenfalls vorsichtig in die Gegenfahrbahn hineintasten dürfen, vgl. § 8 Abs. 2 S. 3 StVO (KG, Urteil vom 12.02.1998, Az. 12 U 5603/96, NZV 1998, 376) und sich hierbei vergewissern müssen, dass sich weder von rechts noch von links ein bevorrechtigter Verkehrsteilnehmer näherte. Vortasten bedeutet das zentimeterweise Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit, sofort anzuhalten (BGH, Urt. v. 21.05.1985, Az. VI ZR 201/83, NJW 1985, 2757; OLG Düsseldorf, Urt. v. 09.02.2016, Az. I-1 U 50/15, zitiert nach beckonline, unter Tz. 46). Schrittgeschwindigkeit ist bereits zu hoch (OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.04.2017, Az. I-U 147/16, NJW-RR 2017, 922).
Hiergegen hat der Zeuge L verstoßen. Der klägerische Pkw fuhr ausweislich des überzeugenden und von den Parteien auch nicht angegriffenen Sachverständigengutachtens zum Kollisionszeitpunkt trotz Bremsung mit einer Geschwindigkeit von 8 bis 10 km/h. Bei einer Geschwindigkeit von 8 km/h legt ein Pkw bereits ca. 2,2 Meter pro Sekunde zurück. Von einem zentimeterweisen Hineintasten ist - entgegen der pauschalen Behauptung der Klägerin in der Berufungsbegründung - angesichts dessen nicht auszugehen. Auch hat es der Zeuge L - wie von ihm eingeräumt - versäumt, vor Beginn des Einbiegens nach links zu schauen. Dies ist auch für den Unfall ursächlich geworden, da nach den überzeugenden und auch insoweit nicht angegriffenen Ausführungen des Sachverständigen der Zeuge L bei Beginn des Einfahrens das herannahende Beklagtenfahrzeug hätte wahrnehmen und von einer Weiterfahrt unfallvermeidend Abstand hätte nehmen können.
bb)
Auf Seiten der Beklagten sind Verkehrsverstöße durch Überfahren der Mittellinie (Zeichen 295, hierzu vgl. lfd. Nr. 68 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO) oder durch einen Verstoß gegen ein Überholverbot, insbesondere gemäß § 5 Abs. 3 Ziffer 1 StVO, nicht in die Abwägung einzustellen, wohl aber ein Geschwindigkeitsverstoß.
Mit Blick auf das - unstreitige und auch durch das Sachverständigengutachten belegte - verkehrswidrige Überfahren der Mittellinie durch den Beklagten zu 1) ist zu berücksichtigen, dass die durchgezogene Mittellinie allein dem Schutz des Gegenverkehrs und des Mitverkehrs, nicht aber dem Schutz dessen dient, der von einem Grundstück auf die Fahrbahn einfährt (OLG Hamm, Urt. v. 27.09.2000, Az. 13 U 80/00, zitiert nach beckonline; KG, Urteil vom 12.02.1998, Az. 12 U 5603/96, NZV 1998, 376). Entsprechendes gilt auch für einen etwaigen Verstoß gegen ein Überholverbot an der Unfallstelle, da Überholverbote den Gegenverkehr, vorausfahrende Verkehrsteilnehmer und den nachfolgenden Verkehr schützen und nicht den Schutz aus einem Grundstück Einfahrender bezwecken, die den Sorgfaltspflichten des § 10 StVO unterliegen (vgl. KG, Urteil vom 12.02.1998, Az. 12 U 5603/96, NZV 1998, 376; OLG Hamm, Urteil vom 04.02.2014, Az. I-9 U 149/13, zitiert nach beckonline; OLG Düsseldorf, Urt. v. 04.03.2014, Az. I-1 U 71/13, zitiert nach beckonline; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 5 Rn. 33; Heß in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25. Auflage 2018, § 5 Rn. 13).
Wie auch durch das Landgericht angenommen, ist dem Beklagten zu 1) aber ein Verstoß gegen §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1 StVO wegen unangepasster Geschwindigkeit vorzuwerfen. Für die Beurteilung der einzuhaltenden Geschwindigkeit ist von Bedeutung, ob man die für Lücken im Bereich von Straßeneinmündungen entwickelte sog. "Lückenfallrechtsprechung" auch in Konstellationen wie der vorliegenden (Einfahrt von einem Grundstück) annimmt. Diese besagt, dass ein vorfahrtberechtigter Verkehrsteilnehmer, der an einer zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonne links vorbeifährt, bei Annäherung an eine Kreuzung oder Einmündung auf größere Lücken in der Kolonne zu achten und sich darauf einzustellen hat, dass diese Lücken vom Querverkehr benutzt werden. Er muss damit rechnen, dass der eine solche Lücke ausnutzende Verkehrsteilnehmer nur unter erheblichen Schwierigkeiten an der haltenden Fahrzeugschlange vorbei Einblick in den parallel verlaufenden Fahrstreifen nehmen kann. Er darf sich der Lücke nur mit voller Aufmerksamkeit und unter Beachtung einer Geschwindigkeit nähern, die ihm notfalls ein sofortiges Anhalten ermöglicht (vgl. grundlegend BGH, Urt. v. 13.05.1969, Az. VI ZR 176/68, zitiert nach juris; OLG Düsseldorf, Urt. v. 04.03.2014, Az. I-1 U 71/13, zitiert nach beckonline m. weit. Nachw.; aktuell: OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.04.2017, Az. I-1 U 147716, NJW-RR 2017, 922). Inwieweit diese Rechtsprechung auch bei Lücken im Bereich von Ein- und Ausfahrten zu Grundstücken anwendbar ist, ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstritten (dafür: OLG Koblenz, Urt. v. 12.01.1981, Az. 12 U 824/80, zitiert nach juris; OLG Hamm, Urt. v. 24.09.1991, Az. 9 U 9/91, NZV 1992, 238; OLG Hamm, Urt. v. 25.11.2005, Az. 24 U 138/05, zitiert nach beckonline; OLG Düsseldorf, Urt. v. 04.03.2014, Az. I-1 U 71/13, zitiert nach beckonline; OLG Köln, Beschl. v. 19.08.2014, Az. I-19 U 30/14, zitiert nach juris; dagegen: KG Urt. v. 12.02.1998, Az. 12 U 5603/96, NZV 1998, 376; OLG Hamm, Urt. v. 20.10.2005, Az. 27 U 37/05, NZV 2006, 204; zum Meinungsstand s. zusammengefasst OLG Düsseldorf a. a. O.).
Der Senat tendiert dazu, vorliegend in Anwendung der sog. Lückenfallrechtsprechung von einer Verpflichtung des Beklagten zu 1) zu besonderer Vorsicht bei der Vorbeifahrt an den haltenden Fahrzeugen auszugehen. Dass sich aus Sicht des Beklagten zu 1) rechts ein McDonald´s Restaurant befand, war unschwer aufgrund der im dortigen Bereich aufgestellten Werbefahnen zu sehen. Es bestand daher - anders als beispielsweise bei lediglich vorhandener Wohnbebauung - in besonderer Weise Anlass, mit von der rechten Straßenseite einfahrenden Fahrzeugen zu rechnen (ähnlich nach der Art der Einfahrt differenzierend auch OLG Frankfurt, Urt. v. 25.11.2005, Az. 24 U 138/05, zitiert nach beckonline; OLG Köln, Beschl. v. 19.08.2014, Az. 19 U 30/14, zitiert nach juris). Geht man dementsprechend von einer erhöhten Sorgfaltspflicht auf Seiten des überholenden Beklagten zu 1) aus, erweist sich die von ihm nach dem Ergebnis des Gutachtens gefahrene Annäherungsgeschwindigkeit von mindestens 35 km/h als erheblich zu schnell (vgl. auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 04.03.2014, Az. I-1 U 71/13, zitiert nach beckonline).
cc)
Letztlich bedarf es einer abschließenden Entscheidung hinsichtlich der Anwendbarkeit der sog. Lückenfall-Rechtsprechung vorliegend aber nicht, da auch im Falle ihrer Annahme sowie eines daraus resultierenden - erheblichen - Geschwindigkeitsverstoßes eine mehr als 40 %-tige Haftung auf Seiten der Beklagten im Ergebnis nicht anzunehmen ist. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Zeuge L beim Einfahren von einem Grundstück aus gemäß § 10 StVO höchste Sorgfaltsanforderungen einzuhalten hatte, wogegen er - wie bereits ausgeführt - unter zwei Gesichtspunkten verstoßen hat. Einem Verstoß gegen derartige verkehrsrechtliche Sorgfaltspflichten, welche ein Fahrverhalten fordern, bei dem die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen ist - sog. Kardinalpflichten -, kommt nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung - auch des erkennenden Senats - im Rahmen der Abwägung mit einem Verstoß gegen sonstige Verkehrsbestimmungen regelmäßig höheres Gewicht zu. Umstände, die ein Abweichen hiervon gebieten würden, liegen nicht vor (vgl. zu ähnlichen Konstellationen auch OLG Hamm, Urt. v. 27.09.2000, Az. 13 U 80/00, zitiert nach beckonline; OLG Düsseldorf, Urt. v. 04.03.2014, Az. I-1 U 71/13, zitiert nach beckonline; OLG Düsseldorf, Urt. v. 09.02.2016, Az. I-1 U 50/15, zitiert nach beckonline, unter Tz. 71; aktuell: OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.04.2017, Az. I-1 U 147, NJW-RR 2017, 922).
b)
Unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 40 % hatte die Klägerin ursprünglich bezogen auf die unstreitigen Schadenspositionen in Höhe von insgesamt 10.756,32 € einen Anspruch auf Zahlung von insgesamt 4.302,53 €. Indem die Beklagte vorgerichtlich bereits 5.365,66 € zzgl. der später gezahlten 12,50 € reguliert hat, hat sie insoweit bereits 1.075,63 € überzahlt.
Aufgrund dessen ist es unerheblich, dass das Landgericht mit Blick auf die streitigen Positionen Kältemittel und Verbringungskosten (in Höhe von insgesamt 91,56 €) - eine Ersatzpflicht insgesamt verneint hat, was auch in Ansehung der Prozesserklärungen der Parteien in der Sitzung vom 26.06.2018 fehlerhaft war, und auch einen Anspruch auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren zur Gänze abgelehnt hat. Ein solcher kam vorliegend angesichts der ursprünglich vollständig unterlassenen Regulierung der Kostenpauschale sowie der nach dem (teilweisen) Unstreitigstellen der zunächst gekürzten Positionen Kältemittel und Verbringungskosten auf Basis eines Gegenstandswertes von bis zu 500,00 € durchaus in Betracht. Ob ein solcher Anspruch tatsächlich besteht, bedarf allerdings deshalb keiner abschließenden Entscheidung, weil selbst bei unterstelltem Anspruch der Klägerin auf Zahlung eines Anteils der beiden Positionen Kältemittel und Verbringungskosten sowie vorgerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren aus einem Gegenstandswert von bis zu 500,00 €, mithin in Höhe von 70,20 € (netto), angesichts obiger Ausführungen noch eine Überzahlung vorliegt, Ansprüche der Klägerin daher nicht mehr offen sind.
III.
Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verspricht sich der Senat angesichts dessen, dass die Beweisaufnahme durch das Landgericht in dem gebotenen Umfang erfolgt, eine weitere Sachverhaltsaufklärung durch den Senat daher nicht geboten ist und keine durch höchstrichterliche Rechtsprechung noch ungeklärte Rechtsfragen entscheidungserheblich sind, keine neuen Erkenntnisse, so dass eine mündliche Verhandlung nach einstimmigem Votum nicht geboten ist.