OLG Düsseldorf, Urteil vom 11.08.2015 - I-1 U 177/14
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 10.11.2014 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 2. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens fallen der Klägerin zur Last.
Dieses Urteil sowie das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die Parteien streiten um materiellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall, der sich am 14.02.2013 gegen 19:10 Uhr auf der "A..." in Duisburg ereignet hat. Der Beklagte zu 1) befuhr die rechte Fahrspur mit einem Schneepflug der Beklagten zu 2). Die Klägerin fuhr mit ihrem Wohnmobil auf der Spur links daneben in gleicher Fahrtrichtung. Es kam zu einer seitlichen Kollision im hinteren Bereich des Klägerfahrzeugs mit dem Schneeschild des Beklagtenfahrzeugs. Einzelheiten hierzu sind streitig.
Gegen das klageabweisende Urteil des Landgerichts richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Klägerin. Mit dieser verfolgt sie ihr erstinstanzliches Begehren mit einer Quote von 60 % (4.504,81 €) gegen die Beklagte zu 2) weiter.
Die allein gegen die Beklagte zu 2) gerichtete Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Denn aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung ist die Klage der Klägerin unbegründet, weil ihr gegen die Beklagte zu 2) kein Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 7 StVG zusteht.
I.
Der Klägerin ist ein schuldhafter Verstoß gegen die Vorschrift des § 5 Abs. 4 S. 2 StVO vorzuwerfen. Danach ist beim Überholen ein ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern einzuhalten.
1.
Die genannte Vorschrift ist anzuwenden, da die Klägerin sich im Unfallzeitpunkt in einem Überholvorgang befand. Überholen ist der tatsächliche, absichtslose Vorgang des Vorbeifahrens auf demselben Straßenteil an einem anderen Verkehrsteilnehmer, der sich in derselben Richtung bewegt (König in Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 43. Auflage 2015, § 5 StVO Rn. 16). Eine Überholabsicht ist nicht Voraussetzung, ebenso wenig eine Erhöhung der Geschwindigkeit oder ein Fahrstreifenwechsel (OLG Düsseldorf, NZV 1990, 319). Es ist daher unerheblich, dass die Klägerin das Fahrzeug möglicherweise tatsächlich nicht überholen wollte. Nach ihrer eigenen Darstellung fuhr sie zumindest soweit seitlich an den Schneepflug heran und links an ihm vorbei, dass sie sich mit ihrem Fahrzeug kurz hinter dem Schneeschild des Beklagtenfahrzeugs befand (S. 2 des Protokolls vom 18.11.2013, Bl. 68 GA). Es lag somit ein Überholvorgang vor. Dass das Beklagtenfahrzeug möglicherweise während dieses Vorgangs gebremst habe, ist - wie das Landgericht zutreffend angenommen hat - nicht bewiesen und würde im Übrigen an der Eigenschaft der Klägerin als Überholerin nichts ändern.
2.
Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, richtet sich die Frage nach dem ausreichenden Seitenabstand nach der Lage des Einzelfalls, insbesondere nach der Art der Fahrzeuge und der Geschwindigkeit des Überholenden, den Fahrbahnverhältnissen, dem Wetter und dem Verhalten des Eingeholten (Heß in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Auflage 2014, § 5 Rn. 14). In der Regel reicht 1 m Seitenabstand beim Überholen aus (König in Hentschel, StVR, § 5 StVO Rn. 54; Senat, Urteil vom 17.12.2013 - I-1 U 30/13; KG Berlin, Beschluss vom 21.02.2007 - 12 U 124/06, NZV 2007, 626). Aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse (Dunkelheit, vgl. Lichtbildmappe der Polizei, Bl. 109 f. GA) und insbesondere der Eigenschaften des Beklagtenfahrzeugs war hier ein Mindestseitenabstand von jedenfalls 1 m einzuhalten. Mit dem Landgericht geht auch der Senat davon aus, dass bei einem Schneepflug im Einsatz - das Schneeschild war hochgestellt, der Streuer war aber an - mit plötzlichen kleinen Lenkbewegungen gerechnet werden muss und dass das Schneeschild dabei entsprechend stärker ausschwenkt als ein Pkw. Der Sachverständige hat hierzu anschaulich ausgeführt, dass aufgrund des deutlichen Abstandes zwischen den Vorderrädern des Schneepflugs und der Front des Schneeschildes das Schneeschild auch bei kleinen Lenkbewegungen deutlich weiter zur linken Seite auslenke als die Fahrzeugfront (S. 17 des Gutachtens, Bl. 145 GA). Damit ging von der Breite des Beklagtenfahrzeugs eine gesteigerte Gefahr aus, welche die Klägerin auch erkannte, da sie selbst angab, eigentlich gar nicht überholt haben zu wollen, da sie ihr Auge "die ganze Zeit auf dieser breiten Schaufel" und auch Angst vor dieser gehabt habe (S. 1 des Protokolls vom 18.11.2013, Bl. 67 GA).
3.
Den Mindestseitenabstand von 1 m hat die Klägerin nicht eingehalten.
An diese Feststellung des Landgerichts ist der Senat gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden, weil die Berufung keine konkreten Anhaltspunkte aufzeigt, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (vgl. BGH, NJW 2004, 2825; NJW 2006, 153). Nach diesen Maßstäben begegnen die erstinstanzlichen Feststellungen keinen durchgreifenden Zweifeln.
a)
Beide Fahrbahnen waren nach den Feststellungen des Sachverständigen 3,20 m breit. Das Schneeschild des Beklagtenfahrzeugs hatte bei Geradeausstellung eine Breite von 3,10 m. Da nach rechts ein Seitenabstand zum Bordstein eingehalten werden musste, sind der Sachverständige und mit ihm das Landgericht davon ausgegangen, dass das Beklagtenfahrzeug innerhalb seines Fahrstreifens äußerst links gefahren sei, so dass sich die linke Seite des Schildes auf Höhe der Leitlinie zwischen den beiden Fahrstreifen befunden habe (S. 5 der Urteilsgründe, Bl. 251 GA).
Unstreitig hat das Wohnmobil eine Breite von 2,02 m, mit Außenspiegeln ist es 2,60 m breit. Bei mittiger Fahrweise waren also zwischen den beiden beteiligten Fahrzeugen lediglich 30 cm (bei Berücksichtigung der Außenspiegel) bzw. 59 cm (ohne deren Berücksichtigung) Platz. Dies genügte dem einzuhaltenden Mindestabstand nicht.
b)
Die Ausführungen in der Berufungsbegründung führen zu keinem anderen Ergebnis.
aa)
Das Vorbringen, zu der Breite der Fahrspuren von jeweils 3,20 m müsse noch die Breite der unterbrochenen Trennlinie hinzugerechnet werden, ist verspätet und kann daher gemäß § 531 Abs. 1 ZPO nicht berücksichtigt werden. Diese Einwendung gegen das Ergebnis des Sachverständigengutachtens hätte die Klägerin bereits in erster Instanz nach Erhalt des Gutachtens vom 02.05.2014 erheben können. Die Klägerin hat hiervon aber keinen Gebrauch gemacht. Zudem dürfte der Anlage 4 zum Gutachten (Bl. 152 GA) zu entnehmen sein, dass die Breite von 3,20 m die Trennlinie bereits mit berücksichtigt, da sich die Spitzen der grünen Pfeile auf der Trennlinie und nicht jeweils davor befinden.
bb)
Ohne Erfolg trägt die Klägerin nunmehr vor, dass sich das Schild des Beklagtenfahrzeugs in Schrägstellung befunden habe, so dass dieses (deutlich) schmaler gewesen sei. Zwar hat der Beklagte zu 1) bei seiner Anhörung selbst ausgeführt hat, dass er das Schneeschild nach rechts geneigt hatte, u.a. weil dann nach links für die anderen Fahrzeuge etwas mehr Platz sei (S. 4 f. des Protokolls vom 18.11.2013, Bl. 70 f. GA). Dieses Vorbringen kann sich die Klägerin aber nicht zu Eigen machen, da sie sich damit in Widerspruch zu ihrem eigenen Vorbringen setzt. Denn sie selbst hat geschildert, dass das Schneeschild gerade gestanden hätte. Das Gegenteil ist auch deshalb nicht glaubhaft, weil das Schild so weit über die Fahrzeugbreite hinaus ragte, dass die Klägerin Angst vor dessen Breite hatte, was sie ja nach ihrer eigenen Darstellung gerade dazu veranlasst hatte, zu versuchen, nicht über die Höhe des Schildes hinauszufahren. Die Feststellung, dass sich das Schneeschild in Schrägstellung befunden habe, lässt sich daher nicht treffen.
cc)
Darüber hinaus würde auch ein im Unfallzeitpunkt nach rechts geneigtes Schneeschild nichts daran ändern, dass die Klägerin den erforderlichen Seitenabstand von mindestens 1 m nicht eingehalten hat.
Unter Zugrundelegung einer Breite des nach rechts geneigten Schneeschildes von 2,80 m wäre eine mittige Fahrweise des Beklagtenfahrzeugs möglich gewesen. Dann ergäbe sich auf der 3,20 m breiten Fahrbahn ein Abstand zur links daneben befindlichen Fahrbahn der Klägerin von 20 cm. Rechnet man den Abstand von 30 cm (bei Berücksichtigung der Außenspiegel) bzw. 59 cm (ohne deren Berücksichtigung) des klägerischen Wohnmobils bis zu der rechten Fahrbahn hinzu, ergibt sich ein Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen von 50 cm (bei Berücksichtigung der Außenspiegel) bzw. 79 cm (ohne Außenspiegel). Auch damit wäre der Mindestabstand von 1 m nicht eingehalten.
Mit dem Landgericht geht auch der Senat davon aus, dass die Klägerin mittig in ihrer Fahrbahn gefahren ist und nicht an der linken Fahrbahnbegrenzung. Zwar hat sie bei ihrer Anhörung geschildert, sie sei so weit wie möglich links gefahren (S. 1 des Protokolls vom 18.11.2013, Bl. 67 GA). Damit steht aber nicht fest, dass sie tatsächlich äußerst links gefahren ist. Denn ebenso wie vor dem Schneeschild des Beklagtenfahrzeugs gab sie auch an, Angst davor gehabt zu haben, zu weit nach links und in den Gegenverkehr zu geraten (S. 2 des Protokolls, Bl. 68 GA). Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die Klägerin versucht hat, sich von beiden gefährlichen Seiten fernzuhalten, was einer mittigen Fahrweise entspricht. Vor diesem Hintergrund bestehen keine Zweifel i.S.d. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an der Richtigkeit der Feststellung des Landgerichts, dass die Klägerin nicht ganz links, sondern mittig auf ihrer Fahrbahn gefahren ist.
Im Übrigen müssten bei einer Fahrweise am linken Rand der Fahrspur die Außenspiegel in die Breite des Wohnmobils mit eingerechnet werden, da diese ansonsten in die gegnerische Fahrbahn geragt hätten. Damit ergibt sich eine Breite des Wohnmobils von 2,60 m, so dass bei äußerst linker Fahrweise 60 cm Platz bis zu dem rechten Fahrstreifen gegeben wären. Der Abstand zwischen den beiden unfallbeteiligten Fahrzeugen hätte dann in diesem Fall lediglich 80 cm betragen, was noch immer nicht der Einhaltung des Mindestabstands entspricht.
Entgegen der Behauptung der Berufung wäre ein Abstand des Beklagtenfahrzeugs von 30-40 cm zur linken Fahrspur nicht möglich. Die Behauptung, dass der Beklagte zu 1) mit dem Schneepflug äußerst rechts gefahren sei, ist neu und damit gemäß § 531 ZPO nicht zu berücksichtigen. Im Übrigen spricht nichts für eine solche Fahrweise. Dies gilt auch dann, wenn das Schild sich in der oberen Position befunden hat und somit über die rechte Bordsteinkante hinausragen konnte. Denn auch in der nach oben gestellten Positionen befand sich die untere Kante des Schildes lediglich ca. 25 cm von dem Boden entfernt (Bild 18 des Gutachtens, Bl. 166 GA). Es ist nicht anzunehmen, dass der Beklagte zu 1) unter diesen Umständen besonders weit rechts gefahren ist. Zudem hat keine der Parteien bei der Anhörung eine solche Fahrposition des Beklagten zu 1) geschildert.
II.
Ein weiterer Fahrfehler der Klägerin ist nicht festzustellen. Auch ein Verstoß des Beklagten zu 1) steht nicht fest.
Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen erfolgte die Kollision in einem äußerst spitzen Winkel in einer Größenordnung von ca. 2° bis 3° (S. 16 des Gutachtens, Bl. 144 GA). Deutliche Lenkbewegungen nach links bzw. rechts können daher nicht vorgelegen haben. Gleichzeitig konnte bereits ein minimaler Lenkeinschlag bei dem Beklagtenfahrzeug eine Auslenkbewegung des Schneeschildes bewirken (S. 17 des Gutachtens, Bl. 145 GA). Auch können Fahrbahnunebenheiten oder seitlicher Wind auf der Brücke Ursache für einen geringen Schräglauf des Beklagtenfahrzeugs gewesen sein (S. 18 des Gutachtens, Bl. 146 GA).
Auf Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen sind daher die Unfallschilderungen beider Parteien möglich, also sowohl ein geringfügiges Lenken des Beklagten zu 1) nach links über die Fahrbahnlinie hinaus als auch ein zu frühes Hinüberfahren der Klägerin nach rechts. Auch die Veränderung der Position des Schildes während des Fahrens durch den Beklagten zu 1) kann keine Haftung der Beklagten begründen. Insoweit wird auf die überzeugende Begründung des Landgerichts, welche insoweit auch nicht mit der Berufung angegriffen wird, Bezug genommen.
III.
Die damit allein feststehende Nichteinhaltung eines ausreichenden Seitenabstands beim Überholen war auch unfallursächlich.
Sind nämlich nach den obigen Ausführungen deutliche Lenkbewegungen ausgeschlossen und führte bereits eine geringfügige Richtungsänderung zu der Kollision, wirkte sich der zu geringe Seitenabstand zwischen den Fahrzeugen unmittelbar unfallursächlich aus.
Ein unfallursächlicher Sorgfaltspflichtverstoß ist daher festzustellen. Auf die Frage, ob bei einem Zusammenstoß zwischen Überholendem und überholtem Fahrzeug der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des überholenden Fahrers spricht (BGH, Urteil vom 26.11.1974 - VI ZR 10/74: Frage der Umstände des Einzelfalls), kommt es somit nicht an.
IV.
Im Rahmen der nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG erforderlichen Abwägung könnte allenfalls eine erhöhte Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs aufgrund dessen Breite und wegen der Besonderheiten seiner Fahreigenschaften zu einer Mithaftung der Beklagten zu 2) führen. Dagegen spricht, dass die Klägerin die von der Breite des Schneepflugs ausgehende Gefahr erkannt und dennoch zu dem Überholvorgang angesetzt hat. Zudem trug auch die Breite ihres eigenen Wohnmobils erheblich mit zu der erhöhten Gefahr aus. Die alleinige Haftung der Klägerin ist daher gerechtfertigt.
V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, da ein Zulassungsgrund gemäß § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO nicht gegeben ist.
Streitwert für das Berufungsverfahren: 4.504,81 €