Hessischer VGH, Beschluss vom 10.07.2018 - 9 A 986/16.Z
Die an einem Flugplatz festgelegten Sichtan- und -abflugstrecken sind als Korridor von Navigationspunkt zu Navigationspunkt und nicht als linienförmige Strecken zu verstehen. Die nach der Durchführungsverordnung - DVO - (EU) Nr. 923/2012, SE-RA.5005 zu wahrende Mindestflughöhe für den Reiseflug von 150 m über dem höchsten Hindernis und in dessen Umkreis von 150 m stellt nicht auch den zu wahrenden horizontalen Sicherheitsabstand zwischen Hindernissen und den An- und Abflugstrecken dar.
Tenor
Auf den Antrag des Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 8. März 2016 zugelassen. Das Verfahren wird als Berufungsverfahren unter dem Aktenzeichen 9 A 1392/18 fortgesetzt.
Die Entscheidung über die Kosten des Antragsverfahrens folgt der Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 116.558,64 € festgesetzt.
Gründe
Der nach § 124a Abs. 4 VwGO statthafte Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung ist auch im Übrigen zulässig und hat in der Sache Erfolg.
Die Klägerin begehrt von dem Beklagten eine erneute Entscheidung über ihren Antrag auf Erteilung der Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb einer Windkraftanlage vom Typ ENERCON E-101 mit einer Nennleistung von 3 MW, einer Nabenhöhe von 149 m und einer Gesamthöhe von 199,50 m auf dem Grundstück in Immenhausen, Flur ..., Flurstück ..., die dem Ersatz einer Windkraftanlage vom Typ Nedwind 43 mit 50,00 m Nabenhöhe dienen soll.
Der Beklagte hat diesen Antrag mit Bescheid vom 8. August 2013 wegen sicherheitsrelevanter Beeinträchtigungen des Flugverkehrs abgelehnt, weil die geplante Anlage unterhalb der zuletzt mit der 250. Durchführungsverordnung zur Luftverkehrsordnung - 250. DVO-LuftVO - festgelegten Sichtflugstrecken für den An- und Abflug zum und vom Flughafen Kassel-Calden von und in Richtung des Pflichtmeldepunktes "ECHO" liege.
Auf die zunächst von der Klägerin erhobene Untätigkeitsklage, in die der ablehnende Bescheid des Beklagten vom 8. August 2013 einbezogen worden ist, hat das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Urteil den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides verpflichtet, den Genehmigungsantrag der Klägerin erneut zu bescheiden, und dies damit begründet, dass der allein herangezogene luftverkehrsrechtliche Ablehnungsgrund die Versagung der Genehmigung nicht trage, weil die Luftfahrtbehörde ihre Zustimmung rechtswidrig verweigert habe. Die geforderte Sicherheitsmindesthöhe und der Mindestabstand seien nunmehr der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 923/2012, SERA.5005 f) zu entnehmen, und es sei außerdem zu berücksichtigen, dass aufgrund der ebenfalls zwischenzeitlich durch die erste Verordnung zur Änderung der 250. Durchführungsverordnung zur LuftVO zur Festlegung von Flugverfahren für An- und Abflüge nach Sichtflugregeln zum und vom Verkehrsflughafen Kassel-Calden vom 4. Juni 2014, in Kraft getreten am 10. Juli 2014 (250. DVO LuftV0), neben dem - hier maßgeblichen - Pflichtmeldepunkt "Echo 1", bisher "Echo", der weitere Pflichtmeldepunkt "Echo 2" bzgl. des Streckenverlaufs der Sichtan- und abflugstrecke eingeführt worden sei. Die demnach zugrunde zu legende gedachte Linie sei wegen der eindeutigen gesetzlichen Regelung nicht zwischen dem Pflichtmeldepunkt und dem Flughafenbezugspunkt zu bestimmen, sondern zwischen den Pflichtmeldepunkten "Echo 1" und "Echo 2" mit der Folge, dass die geplante Windkraftanlage nicht direkt unterhalb der Sichtan- und abflugstrecke liege. Dass der Abstand von 150 m zu Hindernissen zwischen Luftfahrzeugen entlang der Sichtflugstrecke und der geplanten Windkraftanlage eingehalten werde, ergebe sich aus dem von der Klägerin vorgelegten Gutachten. Die Luftfahrtbehörde bzw. die Genehmigungsbehörde hätten es versäumt, den bereits im Genehmigungsverfahren vorgetragenen, schlüssigen Argumenten der Klägerin und ihres Gutachters nachzugehen, sich die entsprechenden Berechnungen der Sichtflugstrecke durch die DFS zukommen und erläutern zu lassen bzw. diese nachzuprüfen. Vollkommen unverständlich sei, dass der Beklagte bzw. die Luftfahrtbehörde es seit der Änderung der 250. DVO-LuftVO nicht für erforderlich gehalten hätten, eine weitere Stellungnahme der DFS einzuholen, obwohl sich die vorgelegten Stellungnahmen der DFS ausschließlich auf die alte Rechtslage und damit u. a. auf die ursprüngliche Fassung der 250. DVO LuftVO ohne den weiteren Pflichtmeldepunkt "Echo 2" gestützt hätten. Schließlich handele es sich bei den in der Verordnung als rechtweisend angegebenen Kursen von 231 bzw. 51 Grad letztlich um dieselbe Strecke, da der Abflugkurs von 51 Grad rechtweisend dem Gegenkurs von 231 Grad rechtweisend bzgl. der Anflugstrecke entspreche.
Der Beklagte beruft sich dagegen auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und macht zu Recht geltend, es bestünden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils. Die von der Vorinstanz gegebene Begründung für ihre Entscheidung erweist sich als nicht tragfähig, und es lässt sich ohne nähere Prüfung im Berufungsverfahren nicht feststellen, ob die Entscheidung aus anderen Gründen im Ergebnis richtig ist.
Der Beklagte macht zu Recht geltend, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Feststellung dazu bestehen, dass die Lage und Höhe der geplanten Anlage nicht im Bereich der Sichtan- und -abflugstrecken vom und zum Pflichtmeldepunkt "ECHO" des Flughafens Kassel-Calden liege und - insbesondere unter Berücksichtigung der 1. Änderung der 250. DVO-LuftVO mit den weiteren geschaffenen Meldepunkten ECHO 1 und ECHO 2 - keine sicherheitsrelevante Beeinträchtigung des den Flughafen an- oder von diesem abfliegenden Sichtflugverkehrs darstelle. Das Verwaltungsgericht hat seinem Urteil zugrunde gelegt, dass diese An- und Abflugstrecken als Flüge auf den in den Sichtanflugkarten eingetragenen Linien stattfänden, und diesen Eintragungen zufolge der nach den nunmehr geltenden SERA.5005 einzuhaltende Abstand zu der Anlage, die im Bauschutzbereich errichtet werden soll, gewahrt werde. Zutreffend weist der Beklagte darauf hin, dass die Sichtan- und -abflugstrecken demgegenüber jedoch als Korridor zu verstehen sind, es zudem aufgrund des zu erwartenden Gegenverkehrs zu Ausweichbewegungen und bei marginalen Wetterbedingungen zu Abweichungen von den eingezeichneten Strecken kommen kann, das den Luftfahrzeugführern dafür einzuräumende Höhenband durch die geplante Anlage aber stark eingeschränkt werde. Zudem stellt der vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegte, nach SERA.5005 zu wahrende Sicherheitsabstand von 150 m über dem höchsten Hindernis und in dessen Umkreis nur die für den Reiseflug bestimmte Mindestflughöhe dar, von der - sofern es für Start und Landung notwendig ist - abgewichen werden kann. Diese Möglichkeit der Abweichung ist auch nicht auf die Zeit "während" des unmittelbaren Start- bzw. Landevorgangs und damit nur auf den Endanflug vor dem Aufsetzen auf der Landebahn beschränkt (st. Rspr. des Senats, vgl. dazu Urteil vom 27.05.2014 - 9 C 2269/12.T -, juris Rn. 120 zur LuftVO a.F.; Beschluss des Senats vom 07.09.2017 - 9 A 1785/15.Z -, juris Rn. 17). Ferner hat das Verwaltungsgericht bei seinen Feststellungen unberücksichtigt gelassen, dass die Regelung in SERA.5005 nicht den zu einem Hindernis während des Landeanflugs oder des Abflugs nach dem Start einzuhaltenden horizontalen Mindestabstand, sondern die über dem höchsten Hindernis in 150 m Umkreis des Luftfahrzeugs einzuhaltende Mindesthöhe regelt (Hess. VGH, Beschluss vom 07.09.2017, a.a.O.).
Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht, dass der Beklagte nach dem Erlass der 1. Änderung der 250. DVO-LuftVO die Vorlage einer erneuten, einzelfallbezogenen Stellungnahme seitens der DFS unterlassen hat. Dass diese Festlegung erneuten Prüfungsbedarf aufgeworfen hat, der Beklagte deshalb beweisfällig geblieben ist und der Bescheid deshalb aufzuheben war, ist mit den zu den rechtweisenden Kursen getroffenen Feststellungen nicht tragfähig begründet worden. Insoweit weist der Beklagte zu Recht darauf hin, dass es sich bei den zusätzlichen Meldepunkten ECHO 1 und ECHO 2 nicht um Pflichtmeldepunkte, sondern um Meldepunkte auf Anforderung handele, und der Verlauf der als Korridor anzusehenden Sichtan- und -abflugstrecken damit nicht geändert wurde.
Die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Das Antragsverfahren auf Zulassung der Berufung wird gemäß § 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO als Berufungsverfahren fortgesetzt, ohne dass es der Einlegung der Berufung bedarf (§ 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO).