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Bayerischer VGH, Urteil vom 11.08.2015 - 11 BV 15.909

Eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG tritt nur ein, wenn der Fahrerlaubnisbehörde am Tag des Ausstellens der ergriffenen Maßnahme weitere Verkehrsverstöße bekannt sind, die zu einer Einstufung in eine höhere Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG führen.Fahrerlaubnisentziehung; Fahreignungs-Bewertungssystem; Berechnung des Punktestands; Tattagprinzip; Verringerung des Punktestands; Kenntnis der Fahrerlaubnisbehörde; Abkehr von der Warn- und Erziehungsfunktion

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 18. März 2015 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A1, B, BE, C1, C1E, C, CE, M, S, T.

Mit Schreiben vom 28. Juni 2011 verwarnte ihn die Fahrerlaubnisbehörde bei Erreichen von acht Punkten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F.. Zum 1. Mai 2014 wurden die bis dahin erreichten 12 Punkte im früheren Punktsystem nach § 65 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 StVG in fünf Punkte nach dem neuen Fahreignungs-Bewertungssystem umgerechnet.

Mit Schreiben vom 27. Februar 2014 regte die Polizeiinspektion Bad Kötzting gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde an, aufgrund einer erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung am 10. Februar 2014 die Fahreignung des Klägers nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV oder die Anordnung eines Verkehrsunterrichts nach § 48 StVO zu prüfen.

Mit Schreiben vom 17. November 2014 teilte die Staatsanwaltschaft Regensburg der Fahrerlaubnisbehörde mit, das Amtsgericht Cham habe am 8. Oktober 2014 einen Strafbefehl wegen Beleidigung gegen den Kläger erlassen. Er habe zwei Polizeibeamten bei einer Radarmessung während der Vorbeifahrt den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt. Daraufhin holte die Fahrerlaubnisbehörde am 11. Dezember 2014 eine Auskunft aus dem Fahreignungsregister ein, die am 22. Dezember 2014 einging und fünf Punkte aufwies.

Mit Schreiben vom 8. Januar 2015, eingegangen bei der Fahrerlaubnisbehörde am 19. Januar 2015, teilte das Kraftfahrt-Bundesamt mit, der Kläger habe aufgrund einer Geschwindigkeitsüberschreitung am 10. Februar 2014, geahndet mit Urteil des Amtsgerichts Cham vom 13. November 2014 (Az. 1 OWi 126 Js 9486/14), rechtskräftig seit 19. Dezember 2014, nunmehr sieben Punkte im Fahreignungs-Bewertungssystem erreicht. In dem Auszug ist angekreuzt, dass das einmonatige Fahrverbot ab Rechtskraft wirksam werde. Dem Auszug ist zu entnehmen, dass die Tat dem Kraftfahrt-Bundesamt am 5. Januar 2015 mitgeteilt und am 6. Januar 2015 im Fahreignungsregister eingetragen worden sei. Mit Schreiben vom 21. Januar 2015 verwarnte die Fahrerlaubnisbehörde den Kläger nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n.F..

Mit Schreiben vom 22. Januar 2015, eingegangen bei der Fahrerlaubnisbehörde am 2. Februar 2015, teilte das Kraftfahrt-Bundesamt mit, der Kläger habe aufgrund einer weiteren Geschwindigkeitsübertretung am 10. März 2014, ebenfalls geahndet mit Urteil des Amtsgerichts Cham vom 13. November 2014 (Az. 1 OWi 126 Js 10206/14), rechtskräftig seit 19. Dezember 2014, nunmehr neun Punkte erreicht. Es ist angekreuzt, dass das verhängte einmonatige Fahrverbot ab Rechtskraft wirksam werde. Diese Tat sei dem Kraftfahrt-Bundesamt am 19. Januar 2015 mitgeteilt und am 20. Januar 2015 im Fahreignungsregister gespeichert worden.

Mit Bescheid vom 13. Februar 2015 entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Kläger die Fahrerlaubnis aller Klassen (Nr. 1) und ordnete unter Androhung eines Zwangsgelds die Ablieferung des Führerscheins innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung des Bescheids an (Nrn. 2 und 3). Der Kläger habe neun Punkte im Fahreignungsregister erreicht und sei damit unwiderleglich ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. In der hier anwendbaren Fassung des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. Dezember 2014 stehe der Erziehungsgedanke nicht mehr im Vordergrund. Die Möglichkeit, in kurzer Zeit zahlreiche schwere Verstöße gegen Verkehrsvorschriften zu begehen, die allein wegen der Stufenfolge nicht zur Entziehung der Fahrerlaubnis führten, sei in Abwägung mit der Sicherheit des Verkehrs nicht hinnehmbar. In diesen Fällen müsse auf eine Chance des Betroffenen, sein Verhalten vor Entzug der Fahrerlaubnis ändern zu können, verzichtet werden. Hier seien alle Maßnahmen nach § 4 StVG ordnungsgemäß durchlaufen worden, bevor es zum Entzug der Fahrerlaubnis gekommen sei.

Den dagegen erhobenen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, dem das Verwaltungsgericht Regensburg stattgegeben hatte, hat der Senat mit Beschluss vom 10. Juni 2015 (Az. 11 CS 15.745) auf die Beschwerde des Beklagten abgelehnt. Der Klage hat das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 18. März 2015 ebenfalls stattgegeben und die Berufung zugelassen. Der Kläger habe durch den Verstoß vom 10. März 2014 an diesem Tag insgesamt neun Punkte im Fahreignungsregister erreicht. Die Maßnahmenstufen des Fahreignungs-Bewertungssystems seien aber nicht ordnungsgemäß durchlaufen worden und der Punktestand sei daher auf sieben Punkte zu reduzieren. Nur im Sonderfall der hier nicht einschlägigen vorherigen Punktereduktion nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG könne nach § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG vom Tattagprinzip abgewichen werden. Nur dann sei eine Entziehung der Fahrerlaubnis auch möglich, wenn sämtliche Verkehrsverstöße vor Zugang der Verwarnung begangen worden seien. Ein solcher Fall liege hier aber nicht vor.

Dagegen wendet sich Beklagte mit seiner Berufung. Mit der Rechtsänderung zum 5. Dezember 2014 in § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG solle verdeutlicht werden, dass Verkehrsverstöße auch dann mit Punkten zu bewerten seien, wenn sie vor der Einleitung einer Maßnahme des Fahreignungs-Bewertungssystems begangen worden seien, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnten. Ein solcher Fall liege hier vor, da die Fahrerlaubnisbehörde erst nach Erlass der Verwarnung am 21. Januar 2015 mit Schreiben des Kraftfahrt-Bundesamts vom 22. Januar 2015 von der Tat vom 10. März 2014 erfahren habe.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Staatsanwaltschaft sei zuerst rechtsfehlerhaft von einer Nacheinandervollstreckung der beiden Fahrverbote ausgegangen und habe diese deshalb nicht gleichzeitig an das Kraftfahrt-Bundesamt gemeldet. Dies könne dem Kläger nicht zum Nachteil gereichen. Das Amtsgericht Cham habe zufällig beide Ordnungswidrigkeiten auf den gleichen Tag terminiert. Darauf habe er keinen Einfluss nehmen können. Aufgrund des kombinierten Rechtskraft-Tattag-Prinzips müssten die Verstöße zum Zeitpunkt der Rechtskraft kombiniert betrachtet werden. Es müsse auf den Zeitpunkt der Rechtskraft der Ahndung abgestellt werden, denn die Bearbeitungsdauer bei der Staatsanwaltschaft und die langen Postlaufzeiten bei der Übersendung der Auskünfte durch das Kraftfahrt-Bundesamt könnten nicht zu Lasten des Klägers gehen. Die vom Beklagten vorgenommene Auslegung des Gesetzes würde darauf hinauslaufen, dass es ausschließlich auf die Kenntnis der Behörde ankomme. Dies stelle aber einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip dar. Eine fahrlässige Unkenntnis müsse sich die Behörde ohnehin zurechnen lassen. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Verwarnung am 21. Januar 2015 seien insgesamt neun Punkte im Fahreignungsregister eingetragen gewesen. Die Behörde hätte sich vor Erlass der Verwarnung nochmals vergewissern müssen, welcher Punktestand eingetragen sei. Der Punktestand sei deshalb nach § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG n.F. auf sieben Punkte zu reduzieren gewesen. Eine Entziehung der Fahrerlaubnis komme nicht in Betracht.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung, über die der Senat mit Zustimmung der Beteiligten nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, hat Erfolg. Der Bescheid vom 13. Februar 2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klage ist daher abzuweisen.

Auf den vorliegenden Fall findet § 4 des Straßenverkehrsgesetzes in der ab 5. Dezember 2014 anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 28. November 2014 (BGBl I S. 1802) Anwendung, da auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 13. Februar 2015 abzustellen ist. Die gerichtliche Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde auszurichten (vgl. BVerwG, U.v. 27.9.1995 – 11 C 34.94BVerwGE 99, 249). In Ermangelung eines Widerspruchsverfahrens ist dies hier der Zeitpunkt des Erlasses des streitbefangenen Bescheids.

1. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist ihm zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte im Fahreignungsregister ergeben. Nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG hat die Fahrerlaubnisbehörde für das Ergreifen einer Maßnahme auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Damit hat der Gesetzgeber das von der Rechtsprechung zur Rechtslage vor der Gesetzesänderung zum 1. Mai 2014 entwickelte Tattagprinzip normiert. Der Kläger hat durch die am 10. März 2014 begangene und am 19. Dezember 2014 rechtskräftig geahndete Ordnungswidrigkeit neun Punkte erreicht, so dass ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen war.

Dabei erfolgt die Berechnung des Punktestands bei vor der Rechtsänderung zum 1. Mai 2014 begangenen, aber erst danach rechtskräftig geahndeten und in das Fahreignungsregister eingetragenen Verstöße in der Weise, dass zu dem durch Umrechnung nach der Tabelle der Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG ermittelten Punktestand am 1. Mai 2014 die nach neuem Recht hinzukommenden Punkte für die erst nach dem 1. Mai 2014 eingetragenen Verstöße addiert werden (BayVGH, B.v. 18.5.2015 – 11 BV 14.2839VRS 128, 206; B.v. 15.4.2015 – 11 BV 15.134NJW 2015, 2139; OVG Berlin-Bbg, B.v. 2.6.2015 – OVG 1 S 90.14 - juris).

Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Die für die Ordnungswidrigkeit vom 10. März 2014 anfallenden zwei Punkte konnten daher den zu diesem Zeitpunkt schon bestehenden sieben Punkten hinzurechnet werden, obwohl die Verwarnung vom 21. Januar 2015 erst nach der Begehung dieser Zuwiderhandlung erfolgte. Als der Fahrerlaubnisbehörde diese Zuwiderhandlung mit Schreiben des Kraftfahrt-Bundesamts vom 22. Januar 2015 bekannt wurde, hatte der Kläger die Maßnahmenstufen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG schon durchlaufen. Die Fahrerlaubnis musste ihm nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG daher zwingend entzogen werden.

2. Der Kläger kann auch keine Punktereduzierung beanspruchen. Nach § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG darf die Fahrerlaubnisbehörde eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 oder 3 StVG (Verwarnung oder Fahrerlaubnisentziehung) erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 oder 2 StVG bereits ergriffen worden ist. Sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, ist diese zu ergreifen (§ 4 Abs. 6 Satz 2 StVG). Der Punktestand verringert sich dann mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der ergriffenen Ermahnung auf fünf Punkte und der Verwarnung auf sieben Punkte, wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist (§ 4 Abs. 6 Satz 3 StVG). Diese Regelungen wurden (inhaltlich) bereits zum 1. Mai 2014 eingeführt, wenngleich § 4 Abs. 6 StVG mit Gesetz vom 28. November 2014 (a.a.O.) zum 5. Dezember 2014 neu gefasst und durch weitere Regelungen ergänzt wurde.

2.1 Der Kläger hat das Stufensystem durchlaufen, ohne dass eine Punktereduzierung eingetreten wäre. Die Fahrerlaubnisbehörde verwarnte ihn mit Schreiben vom 28. Juni 2011 nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (BGBl I S. 310, StVG a.F.), damals zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Juni 2011 (BGBl I S.1124), bei einem angenommenen Stand von acht Punkten (erste Stufe der Maßnahmen nach dem Punktsystem). Diese Verwarnung war nach Einführung des Fahreignungs-Bewertungssystems zum 1. Mai 2014 nicht zu wiederholen, da die (Neu-) Einordnung nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG allein (Umrechnung der Punkte) nicht zu einer Maßnahme nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem führt (§ 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 3 StVG, BayVGH, B.v. 7.1.2015 – 11 CS 14.2653 – juris Rn. 9).

2.2 Der Kläger hat auch die zweite Stufe des Punktsystems ordnungsgemäß durchlaufen. Die Fahrerlaubnisbehörde verwarnte ihn bei einem auf den Tattag 10. Februar 2014 bezogenen, im Fahreignungsregister eingetragenen Stand von sieben Punkten mit Schreiben vom 21. Januar 2015 nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG. Der Punktestand verringerte sich dadurch nicht nach § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG mit Wirkung des Tags des Ausstellens der ergriffenen Verwarnung auf sieben Punkte. Zwar war die weitere Tat vom 10. März 2014 beim Ausstellen der Verwarnung bereits rechtskräftig geahndet und im Fahreignungsregister eingetragen, der Fahrerlaubnisbehörde war aber weder diese Tat noch deren Eintragung bekannt, sodass dieser Verkehrsverstoß bei der Verwarnung noch keine Berücksichtigung finden konnte. Im Übrigen führte die spätere Eintragung der Ordnungswidrigkeit, die der Kläger am 10. März 2014 begangen hat, auch nicht zu einem höheren Punktestand am Tattag 10. Februar 2014, sondern erst am 10. März 2014.

Bei der Frage, ob dem Betreffenden eine Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG zu Gute kommt, ist nach dem Gesetzeswortlaut des § 4 Abs. 6 Sätze 1 und 2 StVG nicht auf den Zeitpunkt der rechtskräftigen Ahndung oder Eintragung im Fahreignungsregister der letzten zu berücksichtigenden Zuwiderhandlung abzustellen, sondern es kommt allein darauf an, ob bei Ergreifen der weiteren Maßnahme die vorherige Maßnahme tatsächlich schon rechtmäßig ergriffen wurde. Diese Auslegung wird auch durch den Wortlaut des § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG gestützt, der besagt, dass auch im Falle einer Verringerung der Punktezahl nach Satz 3 der Vorschrift Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die nach Landesrecht zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach Satz 3 ergebenen Punktestand erhöhen.

Eine solche Auslegung entspricht auch dem Zweck der Rechtsänderungen zum 1. Mai 2014 und 5. Dezember 2014. Der Gesetzgeber wollte sich gemäß der Gesetzesbegründung von den Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 25. September 2008 (Az. 3 C 3/07) für das ab 1. Mai 2014 geltende neue System mit den Erwägungen zur Punkteentstehung und zum Tattagprinzip bewusst absetzen (BT-Drs. 18/2775, S. 9). Es soll nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit zur Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Vielmehr kommt es unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten und für das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, auf die Effektivität des Fahreignungs-Bewertungssystems an (BT-Drs. 18/2775, S. 9 f.). Insbesondere bei Konstellationen, in denen in kurzer Zeit wiederholt und schwer gegen Verkehrsregeln verstoßen wurde, was ein besonderes Risiko für die Verkehrssicherheit bedeutet, soll nach Ansicht des Gesetzgebers in Abwägung mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit nicht über bestimmte Verkehrsverstöße hinweggesehen werden (vgl. BT-Drs. 18/2775, S. 10). Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden ist, ist daher vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusst das Entstehen von Punkten nicht (BT-Drs. 18/2775, S. 10). Mit § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG soll nach der Gesetzesbegründung verdeutlicht werden, dass Verkehrsverstöße auch dann mit Punkten zu bewerten sind, wenn sie vor der Einleitung einer Maßnahme des Fahreignungs-Bewertungssystems begangen worden sind, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnten, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen worden oder der Behörde zur Kenntnis gelangt sind (BT-Drs. 18/2775, S. 10). Eine solche Konstellation, in der die Behörde erst nach Ergreifen einer Maßnahme von einer weiteren Zuwiderhandlung erfahren hat, liegt hier vor, denn die Fahrerlaubnisbehörde hatte vor dem Eingang der Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts am 2. Februar 2015 keine Kenntnis von der am 19. Dezember 2014 rechtskräftig geahndeten Ordnungswidrigkeit vom 10. März 2014.

2.3 Ob die Fahrerlaubnisbehörde sich ggf. schuldhafte Verzögerungen durch andere Behörden (Staatsanwaltschaften, Kraftfahrt-Bundesamt) bei der Übermittlung der Daten zurechnen lassen muss, kann offenbleiben, denn solche Verzögerungen liegen hier nicht vor. Soweit der Kläger vorträgt, die Staatsanwaltschaft habe die Verfahren fehlerhaft behandelt, denn sie sei verpflichtet gewesen, beide Urteile nach Rechtskraft am 19. Dezember 2014 dem Kraftfahrt-Bundesamt gleichzeitig zu übermitteln und die Fahrerlaubnisbehörde müsse sich diesen Pflichtenverstoß zurechnen lassen, kann dem nicht gefolgt werden. Nach § 28 Abs. 4 StVG teilen die Gerichte, Staatsanwaltschaften und anderen Behörden dem Kraftfahrt-Bundesamt unverzüglich die nach § 28 Abs. 3 StVG zu speichernden Daten mit. Die Eintragung von Entscheidungen im Fahreignungsregister stellt keinen Verwaltungsakt dar, sondern dient nur der Sammlung von Informationen (Hentschel/Dauer/König, Straßenverkehrsrecht, 43. Auflage 2015, § 28 StVG Rn. 17). Die Staatsanwaltschaft hat die Mitteilung hinsichtlich der Tat vom 10. März 2014 nicht schuldhaft verzögert. Bezüglich der Vollstreckung von gleichzeitig verhängten Fahrverboten nach § 44 StGB, § 25 Abs. 2 und 2a StVG bestehen weiterhin Rechtsunsicherheiten (vgl. aktuell Seutter, Die Parallelvollstreckung von Fahrverboten, DAR 2015, 428). Dies war dem Kläger offensichtlich auch bekannt, denn er beantragte mit der Rücknahme seiner Rechtsmittel, die Fahrverbote parallel zu vollstrecken und stellte vorsorglich Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Angesichts der bestehenden Rechtsunsicherheit ist es aber nicht zu beanstanden, dass die Staatsanwaltschaft das Fahrverbot hinsichtlich der zuerst begangenen Tat vollstreckt und währenddessen noch prüft, ob für die weitere Tat eine Parallel- oder eine Nacheinandervollstreckung durchgeführt werden soll und dann erst die weitere Tat an das Kraftfahrt-Bundesamt meldet. Dass der Antragsteller offenbar davon ausgegangen ist, bei einer parallelen Vollstreckung der Fahrverbote würde die Staatsanwaltschaft die Ordnungswidrigkeiten gleichzeitig an das Kraftfahrt-Bundesamt melden und er könne dadurch eine Punkteverringerung erreichen, führt nicht zu einer anderen Einschätzung. Die Staatsanwaltschaft hat keinen dahingehenden Vertrauenstatbestand gesetzt, sondern noch versucht, dem Kläger mitzuteilen, dass eine Nacheinandervollstreckung beabsichtigt sei. Ein entsprechendes Schreiben erreichte ihn wegen einer Adressänderung wohl aber nicht. Hinsichtlich der Vollstreckung der beiden Fahrverbote ist dem Kläger auch kein Nachteil entstanden, denn diese wurden letztendlich parallel vollstreckt.

Auch bei der Übermittlung der Daten durch das Kraftfahrt-Bundesamt an die Fahrerlaubnisbehörde sind keine schuldhaften Verzögerungen ersichtlich. Nach § 4 Abs. 8 Satz 1 StVG hat das Kraftfahrt-Bundesamt zur Vorbereitung der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG bei Erreichen der jeweiligen Punktestände nach § 4 Abs. 5 StVG der nach Landesrecht zuständigen Behörde die vorhandenen Eintragungen aus dem Fahreignungsregister zu übermitteln. Dementsprechend hat das Kraftfahrt-Bundesamt nach Mitteilung der rechtskräftig geahndeten Ordnungswidrigkeiten durch die Staatsanwaltschaft die Verstöße am 6. Januar 2015 und 20. Januar 2015 im Fahreignungsregister eingetragen, am 8. Januar 2015 und 22. Januar 2015 einen Auszug erstellt und jeweils per Post an die Fahrerlaubnisbehörde versandt. Eine elektronische und damit ggf. schnellere Übermittlung ist demgegenüber nicht verpflichtend vorgesehen. Nach § 30b StVG kann das Anfrage- und Auskunftsverfahren beim Kraftfahrt-Bundesamt zwar auch automatisiert erfolgen. Es besteht aber keine gesetzliche Pflicht zu einer automatisierten Übermittlung, da solche Verfahren nur unter den Voraussetzungen des § 30b Abs. 2 StVG eingerichtet werden dürfen.

Die Fahrerlaubnisbehörde ist auch nicht verpflichtet, vor Ergreifen einer Maßnahme nach § 4 Abs. 5 StVG nochmals den Punktestand durch eine Anfrage bei dem Kraftfahrt-Bundesamt zu überprüfen. Es ist schon nicht ersichtlich, aus welcher gesetzlichen Vorschrift sich eine solche Pflicht ergeben sollte. Zudem wäre auch damit aufgrund der Bearbeitungs- und Postlaufzeiten nicht zu gewährleisten, dass zum Zeitpunkt des Ergreifens einer Maßnahme nicht schon weitere Verkehrsverstöße im Fahreignungsregister eingetragen sind, die von dem jeweiligen Auszug noch nicht erfasst und der Fahrerlaubnisbehörde damit nicht bekannt sind.

Nach den straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften besteht auch kein schützenswertes Vertrauen dahingehend, dass Urteile, die am gleichen Tag Rechtskraft erlangen auch tatsächlich am gleichen Tag an das Kraftfahrt-Bundesamt gemeldet und die entsprechenden Eintragungen dann zeitgleich an die Fahrerlaubnisbehörde übermittelt werden.

2.4 Durchgreifende Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des § 4 Abs. 5 und 6 StVG bestehen nicht (so nunmehr auch, wenn auch mit Einschränkungen, OVG NW, B.v. 27.4.2015 – 16 B 226/15 – juris Rn. 11 ff.). Die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer unechten Rückwirkung (tatbestandliche Rückanknüpfung) der ohne Übergangsregelung geänderten bzw. neu eingeführten Vorschriften (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 18.5.2015 – 11 BV 14.2839VRS 128, 206; SächsOVG, B.v. 7.7.2015 – 3 B 118/15 – juris Rn. 11; OVG Berlin-Bbg, B.v. 2.6.2015 – OVG 1 S 90.14 – juris) stellt sich hier auch dann nicht, wenn man die zum 5. Dezember 2014 erfolgte Gesetzesänderung nicht als Klarstellung ansähe, weil beide Taten des Klägers, die Anlass für die Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 und 3 StVG waren, hier erst am 19. Dezember 2014, also nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung zum 5. Dezember 2014, rechtskräftig geahndet wurden.

Es stellt auch keinen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG dar, dass der Gesetzgeber die in § 4 Abs. 5 Satz 1 und 2 StVG a.F. geregelte Warn- und Erziehungsfunktion und die damit einhergehende Verringerung der Punktestände weitestgehend aufgegeben hat. Es ist nicht ersichtlich, dass es verfassungsrechtlich geboten wäre, eine solche Begünstigung für Personen, die in kurzen zeitlichen Abständen erhebliche Verkehrsverstöße begehen, beizubehalten. Soweit keine willkürliche Verzögerung der Kenntnisnahme durch die Behörde vorliegt, ist es nicht zu beanstanden, die entsprechenden Maßnahmen vom Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde abhängig zu machen (vgl. OVG NW, B.v. 27.4.2015 a.a.O. Rn. 13).

3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. 708 ff. ZPO.

4. Die Revision ist zuzulassen, da grundsätzlich klärungsbedürftig ist, ob eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG eintritt, wenn zum Zeitpunkt des Ausstellens der ergriffenen Maßnahme noch ein weiterer Verstoß im Fahreignungsregister eingetragen ist, der zu einer Einstufung in eine höhere Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG führen würde, der Fahrerlaubnisbehörde aber noch nicht bekannt ist.  

Beschluss

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 15.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 46.2, 46.3 und 46.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedr. in Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, Anhang zu § 164 Rn. 14).

Lukas Jozefaciuk