VG Münster, Urteil vom 26.11.2015 - 8 K 1630/14
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Gründe
Es bleibt offen, ob der Kläger sein mit dem Antrag aus Januar 2014 letztlich formuliertes Begehren, die Verkehrszeichen 241 zu beseitigen, auf dem Weg der Klage erreichen kann. Der Kläger hat nach der Konzeption der Verwaltungsgerichtsordnung kein Recht, eine Popularklage zu erheben. Er trägt auch vor, eine solche Popularklage nicht geltend machen zu wollen. Der Verwaltungsprozess ist allein auf Durchsetzung subjektiver Rechte des Klägers im Einzelfall gerichtet (vgl. § 113 VwGO); das Verwaltungsgericht hat allein zu prüfen, ob Rechte des Klägers beeinträchtigt sind. Selbst wenn eine solche Beeinträchtigung in einem Einzelfall bestände, muss dies aber nicht zwingend die Beseitigung der Verkehrszeichen zur Folge haben. Es ist zwar zu bedenken, dass ein Verkehrsschild seine den Verkehr ordnende Funktion im Regelfall nur erfüllen kann, wenn es gegenüber allen Verkehrsteilnehmern einheitlich wirkt (Neumann, jurisPR-BVerwG 6/2014 Anm. 6). Dies könnte einerseits dafür sprechen, dass in einem Erfolgsfall einer einzelnen Klage mittelbar die Folge entsteht, dass betroffene Verkehrszeichen entfernt werden. Im Falle einer Aufhebung der verkehrsrechtlichen Anordnung zur Radwegebenutzungspflicht Andererseits könnten aber andere Verkehrsteilnehmer dagegen Klage erheben. Denn auch die Entfernung von Verkehrszeichen entfaltet in gleicher Weise wie deren Aufstellung einen regelnden Eingriff in die zuvor gegebene verkehrsrechtliche Situation mit einer Vielzahl potentieller Adressaten (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12. Februar 1997 - 25 B 2562/96 ?, NJW 1998, 329 = juris, Rn. 8). Eine aus Sicht des Klägers für ihn positive Entscheidung des Verwaltungsgerichts kann dies nicht hindern. Die Rechtskraft einer solchen Gerichtsentscheidung erstreckt sich nicht auf die anderen potentiellen Adressaten einer Aufhebungsverfügung (§ 121 VwGO). Im Übrigen sieht das Fachrecht auch eine andere Möglichkeit als die Entfernung der Verkehrszeichen vor. Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StVO ist die Beklagte berechtigt, in bestimmten Einzelfällen eine Ausnahme von der Vorschrift über die Straßenbenutzung (§ 2 StVO) und damit eine Ausnahme von § 2 Abs. 4 Satz 2 StVO zu genehmigen. Wenn eine solche Ausnahmegenehmigung erteilt werden könnte, wäre den Einzelinteressen des Klägers entsprochen; zugleich müssten aber die Verkehrszeichen 241 nicht entfernt werden.
Fragen konkurrierender Klagemöglichkeiten Dritter oder einer Ausnahmegenehmigung für den Kläger bedürfen für die hier allein zu treffende Entscheidung aber keiner weiteren Untersuchung.
I. Die Verpflichtungsklage des Klägers ist jedenfalls unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 16. Dezember 2014 und auf Verpflichtung der Beklagten, ihn neu zu bescheiden (§ 113 Abs. 5 VwGO).
1. Auch wenn die Anordnung der Beklagten vom 27. Juli 1998 - wie der Kläger annimmt - rechtswidrig wäre, hat der Kläger nach allen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen keinen Anspruch auf eine Neubescheidung.
a) Aus § 48 Abs. 1 VwVfG NRW folgt kein solcher Anspruch des Klägers.
Es kann offen bleiben, ob die Vorschrift anwendbar ist oder nach den Regeln der Gesetzeskonkurrenz durch § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO verdrängt wird. Auch wenn sie hier anzuwenden ist, begründet sie keinen Anspruch des Klägers auf Rücknahme der Anordnung aus 1998.
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW lägen vor, wenn die Anordnung der Beklagten aus 1998 – wie der Kläger meint – rechtwidrig wäre. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Es mag dahingestellt bleiben, ob für eine Rücknahme der Anordnung aus 1998 die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG NRW vorliegen müssen. Dies könnte fraglich sein, weil mit der Anordnung durch die Radwegebenutzungspflicht nicht nur Beschränkungen für den Kläger, sondern auch verkehrsrechtliche Vorteile für andere Verkehrsteilnehmer verbunden sein können, die sie mittels einer gegen eine Aufhebungsverfügung gerichteten Anfechtungsklage geltend machen dürfen. Selbst wenn für eine Rücknahme der Anordnung allein die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW vorliegen müssten und vorliegen sollten, besteht kein Anspruch des Klägers auf eine Neubescheidung, weil die Beklagte ihr Ermessen nicht rechtswidrig ausgeübt hat. Im Rahmen ihrer Ermessensausübung darf sich die Beklagte auf die im Verhältnis zum Kläger bestehende mehrjährige Bestandskraft der verkehrsrechtlichen Anordnung berufen.
Die Beklagte hat die Ermessenserwägung zur Bestandskraft erstmals mit Schriftsatz vom 8. September 2015 und damit nach Ende des Verwaltungsverfahrens geltend gemacht. Sie darf diese Ermessenserwägung im Verwaltungsprozess „nachschieben“, auch wenn sie in dem angefochtenen Bescheid nicht enthalten ist (§ 114 Satz 2 VwGO).
Die Berufung auf die Bestandskraft ist nicht ermessensfehlerhaft (§ 114 Satz 1 VwGO).
Aus einer - vom Kläger angenommenen - Rechtswidrigkeit der verkehrsrechtlichen Anordnung aus 1998 folgt nicht die Verpflichtung der Beklagten, die Anordnung aufzuheben. Die behauptete Rechtswidrigkeit der Anordnung ist lediglich eine Voraussetzung für die Ermessensentscheidung der Beklagten. Obwohl ein rechtswidriger Verwaltungsakt Voraussetzung ist, ordnet § 48 Abs. 1 VwVfG NRW nicht die Pflicht an, den Verwaltungsakt aufzuheben. Trotz Rechtswidrigkeit einer Entscheidung stellt § 48 VwVfG NRW deren Aufhebung in das Ermessen der Behörde. Dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit kommt dabei kein größeres Gewicht zu als dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Die beiden Prinzipien der materiellen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sind grundsätzlich gleichwertig, sofern dem anzuwendenden Recht keine andere gesetzliche Wertung zu entnehmen ist (BVerwG, Urteil vom 30. Januar 1974 ? VIII C 20.72 -, BVerwGE 44, 333 = juris, Rn. 25). Auch aus dem Grundgesetz ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine allgemeine Verpflichtung der Behörden zu entnehmen, rechtswidrige belastende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben (BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2008 - 1 BvR 943/07 -, www.bverfg.de = juris = NVwZ 2008, 550). Aus dem Straßenverkehrsrecht folgt nicht eine abweichende Wertung, dass bestandskräftige Entscheidungen zwingend aufzuheben wären. Auch § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO bindet die Straßenverkehrsbehörden nicht an strikte Regeln, sondern ermächtigt sie zu Ermessensentscheidungen („können“). Schließlich folgt aus der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) zu § 2 StVO kein subjektives Recht des Klägers. Adressat der Verwaltungsvorschrift sind allein die Straßenverkehrsbehörden. Soweit Verwaltungsvorschriften mittelbar einen Anspruch auf Gleichbehandlung (Art. 3 GG) begründen können, liegt eine Ungleichbehandlung des Klägers mit anderen Radfahrern nicht vor, die die Radwege an der Wolbecker Straße befahren.
Ist eine Berufung auf die Bestandskraft im Regelfall zulässig, kommt nur ausnahmsweise in Betracht, dass das behördliche Ermessen fehlerfrei nur durch Rücknahme der rechtswidrigen Anordnung ausgeübt werden darf (Ermessensreduzierung). Dies ist nur der Fall, wenn die Aufrechterhaltung eines Verwaltungsakts schlechthin unerträglich wäre oder Umstände ersichtlich sind, die die Berufung einer Behörde auf die Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben erscheinen lassen (BVerwG, Urteil vom 30. Januar 1974 - VIII C 20.72 -, a. a. O., Rn. 24). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Die angefochtene Entscheidung der Beklagten, die Anordnung aus 1998 nicht aufzuheben, ist für den Kläger nicht schlechthin unerträglich. Der Kläger ist offenbar in der Lage, durch eigenes Verhalten den von ihm (für Andere?) gesehenen Gefahren zu begegnen. Wie das Klagevorbringen, die an die Bezirksregierung gerichtete Fachaufsichtsbeschwerde und sein vereinsgetragene Eintreten für Radfahrerinteressen zeigt, ist der Kläger für die speziellen Gefahren des Radfahrens besonders sensibilisiert. Er war über viele Jahre in der Lage, die Radwege an der Wolbecker Straße zu nutzen. Es ist offenbar, von dem Kläger die Einhaltung der Verkehrsregeln zu fordern, auch wenn sich nicht alle anderen Verkehrsteilnehmer verkehrsgerecht verhalten. Die Teilnahme des Klägers am Straßenverkehr erfordert auch von ihm ständige Vorsicht (§ 1 Abs. 1 StVO). Es ist daher nicht unerträglich, dass der Kläger auf den Radwegen an der Wolbecker Straße mit einem zurückhaltenden Fahrtempo Rad fährt. Es ist nicht unerträglich, dass der Kläger an Gefahrenpunkten vom Fahrrad absteigt und das Fahrrad an dem Gefahrenpunkt über den Gehweg gehend führt, also nicht z. B. im Fall der Sperre des Radwegs durch ein auf dem Radweg ordnungswidrig haltendes Kraftfahrzeug über den Gehweg radelt. Soweit der Kläger geltend macht, es sei Aufgabe der Beklagten, eine Alternative bereitzustellen, mit der Radfahrer genau so komfortabel, zügig und sicher zu ihrem Ziel gelangen wie auf der Fahrbahn, ist es nicht unerträglich, wenn ihm ein solcher Komfort, wenn er denn angesichts der Verkehrslage bestehen sollte, nicht gewährt wird. Eine Reduzierung des Fahrtempos gegenüber dem vom Kläger angestrebten Tempo ist von ihm hinzunehmen.
Ein Verstoß gegen Treu und Glauben liegt nicht vor. Die Beklagte begründet ihre Entscheidung auch mit einer Gefahrenprognose; sie geht davon aus, dass das Radfahren auf der Straße zumindest gleich gefährlich, wenn nicht auf größeren Teilstrecken gefährlicher als das Fahren auf den Radwegen ist. Eine Nichtigkeit der Anordnung aus 1998 ist deshalb nicht gegeben (§ 44 Abs. 1 VwVfG NRW). Der Kläger wird im Verhältnis zu anderen Personen auch nicht ungleich behandelt, für die das Radwegebenutzungsgebot besteht. Er trägt keinen Umstand vor, aufgrund dessen er berechtigt auf eine andere Entscheidung der Beklagten vertrauen durfte. Soweit er eine andere Gefahrenprognose als die Beklagte vertritt, kann die abweichende Meinung zur Vorhersage und damit zur Wahrscheinlichkeitsbewertung künftiger Ereignisse allein keinen Verstoß gegen Treu und Glauben begründen.
b) Ein Anspruch auf Änderung der Anordnung aus 1998 folgt nicht aus § 51 VwVfG NRW (§ 51 Abs. 2 VwVfG NRW).
c) Der geltend gemacht Anspruch folgt auch nicht aus § 45 StVO.
Es mag dahingestellt bleiben, ob § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO Rechtsgrundlage für eine alleinige Aufhebung einer straßenverkehrsrechtlichen Beschränkung und damit für einen sog. „actus contrarius“ und/oder ob hier alleinige Rechtsgrundlage für eine Aufhebung der Anordnung aus 1998 § 48 Abs. 1 VwVfG NRW ist (die Frage für das Verhältnis zwischen § 45 StVO und § 49 VwVfG offen lassend: OVG NRW, Beschluss vom 12. Februar 1997 - 25 B 2562/96 -, NZV 1997, 414 = NJW 1998, 323 = Juris, Rn. 11 – 13).
Wenn § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO - allein oder auch - Rechtsgrundlage für eine Aufhebung einer straßenverkehrsrechtlichen Beschränkung sein sollte, wird der Beklagten auch durch diese Vorschrift ein Ermessen eingeräumt („können“). Im Rahmen dieser Ermächtigung zur Ermessensausübung ist die Beklagte auch berechtigt, auf die Bestandskraft der Anordnung aus 1998 abzustellen. Es gilt für diese Ermessensentscheidung das oben zu a) Ausgeführte.
2. Wenn die Anordnung der Beklagten vom 27. Juli 1998 dagegen - wie die Beklagte annimmt - rechtmäßig wäre, kann aus § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW kein Anspruch auf eine Neubescheidung folgen. Wenn die Anordnung rechtmäßig ist, liegt die wesentliche Tatbestandsvoraussetzung des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW nicht vor.
Ein Anspruch des Klägers auf Aufhebung der Anordnung aus 1998 folgt dann auch nicht aus § 49 Abs. 1 VwVfG NRW („Widerruf“). Insoweit besteht offenbar kein Ermessen der Beklagten, das nur auf eine Entscheidung zu Gunsten des Klägers reduziert ist.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung die Zulassung der Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen beantragt werden. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht Münster, Piusallee 38, 48147 Münster (Postanschrift: Postfach 8048, 48043 Münster) schriftlich oder in elektronischer Form nach Maßgabe der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr bei den Verwaltungsgerichten und den Finanzgerichten im Lande Nordrhein-Westfalen (Elektronische Rechtsverkehrsverordnung Verwaltungs- und Finanzgerichte – ERVVO VG/FG) vom 7. November 2012 (GV. NRW S. 548), zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Vor dem Oberverwaltungsgericht muss sich jeder Beteiligte – außer im Prozesskostenhilfeverfahren – durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte sind nur die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.