VG Düsseldorf, Beschluss vom 01.06.2018 - 6 L 1345/18
Abweichend von der bußgeldrechtlichen Rechtsprechung (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Mai 2016 - 2 (7) SsRs 199/16, DAR 2016, 401, OLG Stuttgart, Beschluss vom 19. Januar 2017 - 2 Ss 762/16, NZV 2017, 341; OLG Hamm, Beschluss vom 7. März 2017 - 1 RBs 167/16, III-1 RBs 167/16; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2016 - 2 Ss OWi 5/16, NStZ-RR 2017, 27) wirken Neutaten nach der Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 StVG nur dann nicht tilgungshemmend für Alttaten, wenn es es sich um Taten handelt, die in der sog. "Überliegefrist" begangen werden. Das folgt aus dem klaren Wortlaut der Übergangsvorschrift, der bei der rein formal zu bestimmenden Tilgungsfrist auslegungsentscheidend ist.
Tenor
Der Antrag wird auf Kosten des Antragstellers abgelehnt.
Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
Der Einzelrichter ist nach § 6 VwGO zur Entscheidung berufen.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 13. April 2018 hat keinen Erfolg.
Die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung des privaten Aussetzungsinteresses des Antragstellers mit dem öffentlichen Vollzugsinteresse fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Die Anfechtungsklage wird nach Aktenlage, die hier allein Entscheidungsgrundlage sein kann, aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben. Denn es spricht Überwiegendes dafür, dass die angegriffene Verfügung rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt.
1. Die Entziehung der Fahrerlaubnis dürfte nach vorläufiger Prüfung rechtlich nicht zu beanstanden sein. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 (zu den §§ 11, 13 und 14 FeV) vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.
Aller Voraussicht nach durfte der Antragsgegner nach § 11 Abs. 8 FeV davon ausgehen, dass der Antragsteller fahrungeeignet ist, weil er der Aufforderung vom 11. Oktober 2017, ein medizinischpsychologisches Gutachten vorzulegen, nicht gefolgt ist. Der Antragsgegner war entgegen der Auffassung des Antragstellers gemäß § 46 Abs. 3 i. V. m. § 13 Satz 1 Nr. 2 b) FeV zu der Begutachtungsanordnung berechtigt. Denn der Antragsteller hat zweimal, also wiederholt, Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen, nämlich jeweils eine Trunkenheitsfahrt im Jahr 2006 und 2016.
Die Verwertbarkeit der Verurteilung wegen der Trunkenheitsfahrt 2016 ist zu Recht zwischen den Beteiligten nicht umstritten.
Der Antragsgegner hat die Untersuchungsaufforderung aber wohl zu Recht zusätzlich auf die Trunkenheitsfahrt vom 20. Juli 2006 gestützt. Diese durfte er beim Erlass der Untersuchungsaufforderung im Oktober 2017 noch verwerten, weil der rechtskräftige Strafbefehl, der hierzu am 15. November 2006 ergangen war, im Oktober 2017 noch nicht tilgungsreif war.
Die Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG n.F. (Mai 2014) erklärt bis zum 30. April 2019 die Tilgungs- und Löschungsvorschriften des StVG a.F. (bis Mai 2014) für Altfälle für anwendbar. Die Trunkenheitsfahrt des Antragstellers aus dem Jahr 2006 ist ein solcher Altfall.
Nach § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVG a.F. beträgt die Tilgungsfrist für den Strafbefehl aus dem Jahr 2006 zehn Jahre, weil er dem Antragsteller auch die Fahrerlaubnis entzogen hat. Die Frist begann nach § 29 Abs. 4 Nr. 1 StVG a.F. für Strafbefehle zwar grundsätzlich am Tag der Unterzeichnung des Strafbefehls. § 29 Abs. 5 Satz 1 StVG a.F. schob den Fristbeginn (längstens fünf Jahre) jedoch auf den Tag der Neuerteilung der Fahrerlaubnis hinaus. Dem Antragsteller wurde die neue Fahrerlaubnis am 16. Mai 2007 erteilt. Die reguläre zehnjährige Tilgungsfrist endete also mit Ablauf des 16. Mai 2017.
Als der Antragsteller im Mai 2016 erneut wegen Trunkenheit verurteilt worden ist, wirkte diese Verurteilung nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a.F. tilgungshemmend, weil im Zeitpunkt der Tilgungsreife der Voreintragung (Strafbefehl von 2006) am 16. Mai 2017 mit dem am 25. Januar 2017 eingetragenen Strafurteil vom 31. Mai 2016 eine weitere Eintragung im Register vorlag.
Der Antragsteller hat die neuerliche Trunkenheitsfahrt vom 16. November 2016 zwar unter Geltung des novellierten StVG (seit Mai 2014) begangen. Diese hat nach der bis zum 30. April 2019 geltenden Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG n.F. aber auch für die Alttat aus dem Jahr 2006 tilgungshemmende Wirkung. Die Vorschrift verweist insofern einschränkungslos auf § 29 StVG a.F., also auch auf dessen Absatz 6. Die begrenzte Gegenausnahme, die § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 StVG n.F. davon macht und auf die der Antragsteller entscheidend abhebt, erfasst lediglich § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG a.F., also „Überliegefrist-Taten“. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass die neue Tat vor der Tilgung der Voreintragung begangen wird, die neue Tat aber erst nach Tilgungseintritt geahndet und innerhalb der Überliegefrist der Voreintragung eingetragen wird. Um einen solchen Fall handelt es sich allerdings bei der Verurteilung wegen der Trunkenheitsfahrt 2016 nicht, weil diese vor der Tilgung der Alttat rechtskräftig geahndet und das Strafurteil eingetragen war.
Soweit in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zum Bußgeldrecht unter Rückgriff auf die Gesetzesbegründung die Auffassung vertreten wird, „Neutaten“ (Taten unter Geltung des StVG 2014) seien generell ungeeignet, den Ablauf der Tilgungsfristen von „Alttaten“ zu hemmen, kann die Kammer dem jedenfalls im Eilverfahren nicht beitreten.
Ausgehend von OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Mai 2016 – 2 (7) SsRs 199/16, DAR 2016, 401, schließen sich dem an: OLG Stuttgart, Beschluss vom 19. Januar 2017 – 2 Ss 762/16, NZV 2017, 341; OLG Hamm, Beschluss vom 7. März 2017 – 1 RBs 167/16, III-1 RBs 167/16; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2016 – 2 Ss OWi 5/16, NStZ-RR 2017, 27.
Das beschließende Gericht gibt im Eilverfahren vielmehr dem Wortlaut der Norm den Vorzug, gleichviel ob die Gesetzgebungsmaterialien die von den Oberlandesgerichten favorisierte erweiternde Auslegung zulassen mögen. Der Wortlaut des Gesetzes hat die Eindeutigkeit und Gleichmäßigkeit des Verwaltungsvollzugs für sich. Beides ist bei den vorwiegend formalen Fragen der Tilgung von Eintragungen und der Tilgungshemmung von besonderer Bedeutung. Denn eine innere Logik und sachliche Zwangsläufigkeit, die korrigierende Auslegungen gegen den klaren Gesetzeswortlaut mit eindeutigem Ergebnis zulassen würden, ist in den Tilgungsvorschriften nicht erkennbar. Mehr noch als für die Stammvorschriften der §§ 28 ff. StVG gilt das für die Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG, die der Gesetzgeber rein dezisionistisch abgefasst hat.
Die allgemein anerkannten Regeln der Auslegung führen die Kammer zu einem anderen Ergebnis bei der Auslegung des § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG als die angeführten Oberlandesgerichte. Nach diesen Regeln bildet der Wortlaut die äußerste Grenze der Auslegung. Widersprechen sich Wortlaut und gesetzgeberischer Wille, hat letzterer aber keinen Niederschlag im Gesetz gefunden, ist dem Wortlaut des Gesetzes der Vorzug zu geben. Das gilt zumindest im vorliegenden Eilverfahren mit seinen begrenzten Erkenntnismöglichkeiten und im Zusammenhang mit den formalen Tilgungs- bzw. den darauf bezogenen Übergangsvorschriften.
Vgl. Dauer, in: Hentschel/Dauer/König, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage (2017), § 29 StVG Rn. 43.
Der Untersuchungsaufforderung stand auch nicht das Strafurteil des Amtsgerichts N. vom 31. Mai 2016 im Wege. Zwar bindet § 3 Abs. 4 StVG die Fahrerlaubnisbehörde und die Verwaltungsgerichte an ein Strafurteil, soweit das Strafurteil – wie das Amtsgericht N. – zur Fahreignung des Fahrerlaubnisinhabers Stellung nimmt. Hält das Strafgericht die Fahreignung für gegeben, ist es der Fahrerlaubnisbehörde nicht nur verwehrt, die Fahrerlaubnis zu entziehen, sondern sie darf auch keine Aufklärungsmaßnahmen wie die Vorlage eines medizinischpsychologischen Gutachtens verlangen. Hierauf weist der Antragsteller richtig hin.
Er übersieht indessen, dass die Bindungswirkung des Strafurteils beschränkt ist. Legt die Fahrerlaubnisbehörde ihrer Maßnahme einen anderen, insbesondere umfassenderen Sachverhalt zugrunde, als denjenigen, über den das Strafgericht zu entscheiden hatte, entfällt die Bindungswirkung. Denn dann kann es nicht zu Doppelprüfungen mit ggf. widersprechenden Entscheidungen kommen.
Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13. September 2012– 16 B 870/12, juris.
So verhält es sich hier. Das Amtsgericht N. hatte lediglich über die Trunkenheitsfahrt aus dem Jahr 2016 und deren Folgen für die Fahrfähigkeit des Antragstellers zu befinden. Die frühere Trunkenheitsfahrt aus dem Jahr 2006 ist nicht Gegenstand des Strafurteils. Sie findet weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen Erwähnung, und zwar auch nicht in den ausführlichen Darlegungen zur Fahreignung. Der Antragsgegner stützt seine Zweifel aber nicht nur auf die eine (neue) Trunkenheitsfahrt, sondern abweichend davon gerade auf die wiederholte alkoholbedingte Zuwiderhandlung. Damit macht sich der Antragsgegner die Bewertung durch § 13 Satz 1 Nr. 2 b) FeV zu eigen, der in der Wiederholung der Alkoholtat den Anlass für Fahreignungszweifel vertypt. Dieses Verwaltungshandeln ist nicht zu beanstanden.
Auch im Übrigen entspricht die Begutachtungsanordnung den gesetzlichen Vorgaben, insbesondere hat der Antragsgegner die Erfordernisse des § 11 Abs. 6 FeV (Begutachtungsfrage, Akteneinsichtshinweis, Frist) eingehalten und den Kläger nach § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV auf die Folgen einer Untersuchungsverweigerung bzw. einer Nichtvorlage des Gutachtens innerhalb der angegebenen Frist hingewiesen.
Der Antragsteller hat trotz seines vorgetragenen abstinenten Lebenswandels und der Abstinenznachweise seine Fahreignung zwischenzeitlich nicht wiedergewonnen. Selbst wenn er abstinent sein sollte, bedarf es zur Wiedergewinnung der Fahreignung einer positiven medizinischpsychologischen Begutachtung, an der es bislang fehlt.
Steht – wie beim Antragsteller – die Fahrungeeignetheit fest, muss die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis entziehen. Ein Ermessensspielraum ist ihr nicht eröffnet. Beim Antragsteller bestehen nach Aktenlage auch nicht ausnahmsweise Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis. Angesichts der höchstwertigen Rechtsgüter, deren Schutz die Fahrerlaubnis dient, nämlich v. a. Leib und Leben der übrigen Verkehrsteilnehmer, der Verkehrssicherheit an sich sowie bedeutenden Sachwerten der Allgemeinheit, tritt das Interesse des Antragstellers zurück, sein Bedürfnis nach fahrerlaubnispflichtiger motorisierter Fortbewegung fortzusetzen. Der möglicherweise eintretende – ggfs. nicht mehr wiedergutzumachende – Schaden wiegt zu schwer, als dass dem Antragsteller trotz seines Alkoholmissbrauchs die Fahrerlaubnis belassen werden könnte, selbst wenn er hierdurch ernste private und/oder berufliche Nachteile hinnehmen muss. Der Antragsteller hat durch seinen Alkoholkonsum die Gefahr für den Straßenverkehr heraufbeschworen. Deswegen ist es angemessen, ihn mit der Folgen der Gefahrbeseitigung zu belasten, mögen sie ihn auch hart treffen.
2. Gegen die Anordnung des Sofortvollzuges ist nichts zu erinnern. Die Anordnung des Sofortvollzuges genügt den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO, wenn die Behörde ? wie hier – deutlich macht, dass ihr der Ausnahmecharakter der Anordnung vor Augen stand und sich aus ihrer Sicht die Entziehungsgründe mit denen der Dringlichkeit der Vollziehung decken. Denn die Sicherheit des Straßenverkehrs ist ein hochwertiges Rechtsgut und von drogenkonsumierenden Kraftfahrern gehen große Gefahren aus. Diese können sich jederzeit verwirklichen. Daher decken sich regelmäßig Erlass- und Sofortvollzugsinteresse weitgehend. Wegen der eigenen gerichtlichen Abwägung des Vollzugsinteresses kommt nicht darauf an, ob die von der Behörde angeführten Gründe, die den Sofortvollzug rechtfertigen sollen, inhaltlich zutreffend sind.
3. Die Pflicht, den Führerschein abzuliefern, ergibt sich aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG und § 47 Abs. 1 Satz 1 und 2 FeV. Danach besteht auch im Fall einer angefochtenen Entziehungsverfügung die Verpflichtung, den Führerschein abzuliefern, wenn die zuständige Behörde – wie hier – die sofortige Vollziehung ihrer Verfügung angeordnet hat.
4. Die nach § 112 JustizG NRW sofort vollziehbare Androhung des Zwangsgelds ist nach den im Bescheid aufgeführten §§ 55 ff. des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes NRW rechtmäßig, insbesondere hinsichtlich der Frist zur Abgabe des Führerscheins und der Höhe des Zwangsgeldes nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Streitwert ist auf 2.500,- Euro festzusetzen (vgl. § 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG), weil der Antragsteller nicht in qualifizierter Weise – etwa als Berufskraftfahrer – auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist.