VG Berlin, Urteil vom 16.03.2016 - 11 K 507.15
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung des Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des nach diesem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen BE, C1E, CE, M und L.
Das Kraftfahrt-Bundesamt teilte dem Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (Fahrerlaubnisbehörde) am 10. Juli 2012 mit, dass der Kläger im Verkehrszentralregister insgesamt neun Punkte aufwies. Daraufhin verwarnte ihn die Fahrerlaubnisbehörde mit Schreiben vom 25. Juli 2012.
Zum 1. Mai 2014 trat die Gesetzesänderung zum neuen Fahreignungs-Bewertungssystem in Kraft. Daraufhin rechnete die Behörde die vom Kläger zwischenzeitlich angesammelten 12 Punkte nach dem alten Recht in 5 Punkte nach dem neuen Recht um. Nachdem er aufgrund eines weiteren Verkehrsverstoßes vom 6. Mai 2014 insgesamt sechs Punkte erreicht hatte, verwarnte ihn die Fahrerlaubnisbehörde mit Schreiben vom 26. August 2014. Am 10. September 2014 wurde ein weiterer Verkehrsverstoß in das Fahreignungsregister eingetragen, den der Kläger bereits am 1. August 2013 begangen hatte und der mit zwei Punkten geahndet wurde. Mit Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 23. Oktober 2014 entzog ihm der Beklagte die Fahrerlaubnis mit der Begründung, in seinem Fahreignungsregister seien acht Punkte eingetragen. Bei diesem Punktestand sei eine Entziehung der Fahrerlaubnis zwingend vorzunehmen.
Seinen hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 26. Oktober 2015 zurück und verwies zur Begründung im Wesentlichen auf den Ausgangsbescheid. Ergänzend führte er aus, eine Punktereduktion könne dem Kläger nicht mit der Erwägung gewährt werden, er habe seinen letzten Verkehrsverstoß noch vor der Verwarnung begangen.
Das Verwaltungsgericht Berlin hat mit Beschluss vom 9. Februar 2015 (– VG 11 L 590.14 –) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs angeordnet. Auf Beschwerde des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg diese Entscheidung aufgehoben und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt (Beschluss vom 7. August 2015 – OVG 1 S 18.15 –).
Mit seiner bei Gericht am 26. November 2015 eingegangenen Klage wendet sich der Kläger gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis mit der Begründung, ihm sei aufgrund der Warn- und Erziehungsfunktion des Maßnahmenkatalogs eine Punkteverringerung zu gewähren, weil er nach der Verwarnung keine Verkehrsverstöße mehr begangen habe.
Er beantragt,
den Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 23. Oktober 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 26. Oktober 2015 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er tritt der Klage entgegen, verweist zur Begründung auf den angegriffenen Bescheid und führt ergänzend aus, der vom Kläger geltend gemachte Sachverhalt könne nach neuer Rechtslage keine Punktereduktion begründen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen, die dem Gericht vorgelegen haben und – soweit wesentlich – Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 23. Oktober 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 26. Oktober 2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis ist die im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung bestehende Sach- und Rechtslage maßgebend (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Januar 2001 – BVerwG 3 B 113.15 – juris, Rdnr. 2), hier also der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides am 26. Oktober 2015.
Rechtsgrundlage für die angegriffene Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 des Straßenverkehrsgesetzes in der Fassung vom 28. November 2014 (BGBl. I, Seite 1802 – StVG n.F.). Danach gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnisbehörde hat die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn die Summe der im Fahreignungsregister eingetragenen Punkte acht oder mehr beträgt. Im Fahreignungsregister sind für den Kläger zutreffend acht Punkte eingetragen, so dass ihm zwingend die Fahrerlaubnis zu entziehen ist.
Dieser Punktestand ergibt sich daraus, dass bei der Umstellung des früheren in § 4 des Straßenverkehrsgesetzes in der Fassung vom 2. Dezember 2010 (StVG a.F.) geregelten Punktsystems zum neuen Fahreignungs-Bewertungssystem am Stichtag 1. Mai 2014 im damaligen Verkehrszentralregister für den Kläger 12 Punkte gespeichert waren und nach der Überleitungsvorschrift in § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. diese einem neuen Punktestand von fünf entsprechen. Bei dieser Überleitung bleiben punktbewehrte Verkehrsverstöße, die noch nicht im Register gespeichert sind, aber vor dem Stichtag begangen wurden – wie hier die Geschwindigkeitsüberschreitung vom 1. August 2013 – unberücksichtigt. Dies ergibt sich neben der Formulierung in § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n.F., „im Verkehrszentralregister eine oder mehrere Entscheidungen […] gespeichert worden sind“, maßgeblich aus § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG n.F., wonach auf Entscheidungen, die bis zum Ablauf des 30. April 2014 begangene Zuwiderhandlungen ahnden und erst ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeichert werden, das Straßenverkehrsgesetz und die entsprechenden Rechtsverordnungen in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung anzuwenden sind (vgl. Beschluss der Kammer vom 12. Dezember 2014 – VG 11 L 484.14 –; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Juni 2015 – OVG 1 S 90.14 – juris, Rdnr. 4).
Zu diesem (umgerechneten) Punktestand von fünf ist aufgrund des am 6. Mai 2014 begangenen Verkehrsverstoßes ein Punkt zu addieren. Durch den bereits am 1. August 2013 begangenen, aber erst am 10. September 2014 im Fahreignungsregister eingetragenen Verkehrsverstoß sammelte der Kläger zwei weitere Punkte an, so dass für ihn insgesamt acht Punkte im Fahreignungsregister gespeichert waren.
Das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten hat dabei auch den Maßnahmenkatalog des § 4 Abs. 5 StVG n.F. eingehalten. Danach ist ein Fahrerlaubnisinhaber beim Punktestand von vier oder fünf Punkten schriftlich zu ermahnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG n.F.) und beim Punktestand von sechs oder sieben Punkten schriftlich zu verwarnen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n.F.). Nach § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG n.F. darf eine Verwarnung oder Entziehung der Fahrerlaubnis erst ergriffen werden, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe bereits ergriffen worden ist. Die Fahrerlaubnisbehörde hat vor der Entziehung der Fahrerlaubnis den Kläger ermahnt und verwarnt. Sie ermahnte ihn mit Schreiben vom 25. Juli 2012 im Sinne von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG n.F., nachdem er nach dem bis zum 1. Mai 2014 gültigen Punktsystem neun Punkte im Verkehrsregister angesammelt hatte. Zwar hieß diese Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F. „Verwarnung“. Damit hatte er jedoch nach der Überleitungsregelung in § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG n.F. mit Inkrafttreten der neuen Fassung des Straßenverkehrsgesetzes am 1. Mai 2014 bereits die erste Stufe des Maßnahmekatalogs nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG n.F. (Ermahnung) erreicht. Diese ist gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 2 StVG n.F. für Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem zugrunde zu legen. Mit Schreiben vom 26. August 2014 ergriff das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten zudem die zweite Maßnahmestufe, indem es den Kläger verwarnte, nachdem für ihn sechs Punkte im Fahreignungsregister eingetragen waren.
Eine Reduktion des Punktestandes (von acht auf sieben) kommt dem Kläger nicht zugute, obwohl er am 26. August 2014 bei einem der Fahrerlaubnisbehörde bekannten Stand von sechs Punkten, aber einem bezogen auf den Tattag schon erreichten Punktestand von acht verwarnt worden ist. Als mögliche Rechtsgrundlage kommt allein § 4 Abs. 6 Sätze 2 und 3 StVG n.F. in Betracht. Danach hat die Fahrerlaubnisbehörde in den Fällen, in denen sie den Maßnahmenkatalog noch nicht ordnungsgemäß durchlaufen hat, die Maßnahme der davor liegenden Stufe zu ergreifen. In diesem Falle verringert sich der Punktestand bei einer (verspäteten) Verwarnung auf sieben Punkte, wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist. Eine Punktereduktion ist nur vorzunehmen, wenn die Fahrerlaubnisbehörde trotz des Eintrags der für die Maßnahme der Folgestufe erforderlichen Punktzahl noch nicht die Maßnahme der vorangegangenen Stufe ergriffen hat (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 7. Oktober 2015 – 16 B 554/15 – juris, Rdnr. 12). Entscheidend ist allein, ob bei Ergreifen einer Maßnahme die vorherige Maßnahme tatsächlich schon rechtmäßig ergriffen wurde (vgl. VGH München, Beschluss vom 10. Juni 2015 – 11 CS 15.745 – juris, Rdnr. 19). Die Punktereduktion knüpft allein an die fehlende Abfolge des Maßnahmekatalogs an. Es kommt damit – anders als nach der Rechtslage bis zum 30. April 2014 – nicht mehr darauf an, ob eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm im Sinne einer Warn- und Erziehungsfunktion die Möglichkeit zur Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde kommen darf. Gleichermaßen ist für eine Punktereduktion nunmehr ohne Bedeutung, welchen Punktestand ein Fahrerlaubnisinhaber zum Zeitpunkt der Ermahnung oder Verwarnung unter Anwendung des Tattagsprinzips „erreicht“ hatte (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 7. Juli 2015 – 3 B 118/15 – juris, Rdnr. 10 ff; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. August 2015 – OVG 1 S 18.15 –). An ihrer gegenteiligen Rechtsprechung hält die Kammer nicht mehr fest (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 9. Februar 2015 – VG 11 L 590.14 – juris).
Für diese nur noch eingeschränkte Möglichkeit einer Punkteverringerung spricht bereits der eindeutige Wortlaut von § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG n.F., der eine Punktereduktion nur vorsieht, wenn die Fahrerlaubnisbehörde die Stufen des Maßnahmenkatalogs noch nicht ordnungsgemäß ergriffen hat.
Auch die Systematik des Gesetzes stützt diese Auslegung. Nach § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG n.F. erhöhen im Falle einer bereits erfolgten Punktereduktion (nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG n.F.) Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung begangen worden sind und von denen die Fahrerlaubnisbehörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den Punktestand. Jedenfalls in der explizit geregelten Konstellation, dass bereits eine Punktereduktion vorgenommen wurde, hat der Gesetzgeber ausdrücklich ausgeschlossen, dass vor der Punktereduktion begangene, aber noch nicht eingetragene Zuwiderhandlungen von der Punkteverminderung erfasst sind.
Für diese Auslegung spricht zudem die Bestimmung in § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG n.F. Danach werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Diese Regelung kann trotz ihrer wohl etwas unklaren Formulierung (vgl. hierzu OVG Münster, Beschluss vom 7. Oktober 2015 – 16 B 554/15 – juris, Rdnr. 18 ff.) nur als Klarstellung des Gesetzgebers verstanden werden, dass es im Grundsatz für den Punktestand nicht auf die zeitliche Abfolge zwischen Begehung einer Zuwiderhandlung und dem Ergreifen von Maßnahmen ankommt (so ausdrücklich BT-Drs. 18/2775, Seite 10; vgl. auch OVG Bautzen, Beschluss vom 7. Juli 2015 – 3 B 118/15 – juris, Rdnr. 10; VGH München, Beschluss vom 10. Juni 2015 – 11 CS 15.745 – juris, Rdnr. 18). Eine Ausnahme gilt nur für den Fall der Nichteinhaltung des Maßnahmenkatalogs, was nach § 4 Abs. 6 Sätze 2 und 3 StVG zu einer Punktereduktion führt.
Dafür, dass eine Punkteverminderung nur bei Verfehlung der „Schrittfolge“ der Maßnahmen in Betracht kommt, deutet ferner der Vergleich mit der Vorgängerregelung in § 4 Abs. 5 StVG a.F. hin. Danach wurde der Punktestand reduziert, wenn der Betroffene einen bestimmten Punktestand (14 oder 18 Punkte) erreichte oder überschritt, ohne dass zuvor die entsprechende Maßnahme (Verwarnung oder Anordnung eines Aufbauseminars) ergriffen wurde. Die Frage, wann ein Fahrerlaubnisinhaber einen bestimmten Punktestand „erreicht“, wurde damals unter Anwendung des Tattagsprinzips beantwortet. Nach diesem Prinzip ergeben sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder der Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 – BVerwG 3 C 3.07 – juris, Rdnr. 33; Janker in Burmann/ Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl. 2014, Rdnr. 35 zu § 4 StVG), wie es nunmehr auch explizit § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG n.F. geregelt ist. Demgegenüber fehlt in der aktuell gültigen Gesetzesfassung ein Anknüpfungspunkt, um für die Punktereduktion in § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG n.F. auf das „Erreichen“ eines Punktestandes abzustellen.
Eine solche Auslegung entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. Dieser wollte sich gemäß der Gesetzesbegründung für das ab 1. Mai 2014 geltende neue Fahreignungssystem bewusst von den Erwägungen der bisherigen Rechtsprechung zur Punkteentstehung und zum Tattagprinzip absetzen (BT-Drs. 18/2775, Seite 9 f.). Es soll nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit zur Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Vielmehr komme es unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten und für das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, auf die Effektivität des Fahreignungs-Bewertungssystems an. Insbesondere bei Konstellationen, in denen in kurzer Zeit wiederholt und schwer gegen Verkehrsregeln verstoßen wurde, was ein besonderes Risiko für die Verkehrssicherheit bedeute, soll nach Ansicht des Gesetzgebers in Abwägung mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit nicht über bestimmte Verkehrsverstöße hinweggesehen werden. Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden ist, sei daher vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusse das Entstehen von Punkten nicht. Mit § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG n.F. soll nach der Gesetzesbegründung verdeutlicht werden, dass Verkehrsverstöße auch dann mit Punkten zu bewerten seien, wenn sie vor der Einleitung einer Maßnahme des Fahreignungs-Bewertungssystems begangen wurden, bei dieser Maßnahme aber noch nicht hätten verwertet werden können, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt habe oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen worden oder der Behörde zur Kenntnis gelangt worden seien. In diesen Erwägungen kommt hinreichend zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber von dem bis dahin systemprägenden Warn- und Erziehungsgedanken des Maßnahmenkatalogs abrücken wollte, jedenfalls für den Anwendungsbereich der Punktereduktion.
Für eine Punktereduktion spricht allenfalls aus systematischen Gründen, dass der Gedanke der Warn- und Erziehungsfunktion des Maßnahmenkatalogs in den Regelungen des § 4 StVG n.F. weiterhin (teilweise) vorhanden ist (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 7. Oktober 2015 – 16 B 554/15 – juris, Rdnr. 13 ff.). Die erste und zweite Maßnahmestufe sind als „Ermahnung“ und „Verwarnung“ formuliert, was nahelegen könnte, dass damit eine Verhaltensänderung des betreffenden Fahrerlaubnisinhabers bezweckt ist. Eine Mahnung oder Warnung, die nicht die Möglichkeit eines daran angepassten Verhaltens bietet, erscheint sinnwidrig. Schwerer wiegt noch, dass die erwähnte Punktereduktion eingreift, wenn der Maßnahmenkatalog nicht ordnungsgemäß durchlaufen wurde. Wenn die Maßnahmen der ersten und zweiten Stufe nur noch reinen Informationszwecken dienten, gäbe es für eine derartige Punktereduktion keinen zwingenden Grund. Vielmehr erschiene es in diesem Fall folgerichtiger, einem Fahrerlaubnisinhaber, der aufgrund wiederholter Verkehrsverstöße acht oder mehr Punkte – u.U. sogar in sehr kurzer Abfolge – erreicht und dadurch seine Ungeeignetheit belegt hat, die Fahrerlaubnis unabhängig von einer vorangegangenen „Information“ zu entziehen. Diese teilweise fortbestehende Warn- und Erziehungsfunktion des Maßnahmenkatalogs könnte es gebieten, dem Fahrerlaubnisinhaber die Möglichkeit einzuräumen, dass er nach einer Verwarnung sein Verhalten noch ändern kann, um den Verlust der Fahrerlaubnis zu verhindern. Dies wiederum ließe sich nur sicherstellen, wenn eine Punktereduktion auch dann möglich wäre, wenn der betreffende Fahrerlaubnisinhaber nach dem Tattagsprinzip bereits acht Punkte erreicht hat, bevor er verwarnt wurde. Letztlich kann diese Erwägung das Gewicht des eindeutigen Wortlautes von § 4 Abs. 6 Sätze 2 und 3 StVG n.F., der übrigen systematischen Gründe und des klaren gesetzgeberischen Willens nicht aufwiegen.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelungen in § 4 StVG n.F. bestehen nicht. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) liegt nicht vor (vgl. hierzu OVG Münster, Beschluss vom 7. Oktober 2015 – 16 B 554/15 – juris, Rdnr. 23). Zwar liegt nach der aktuellen gesetzlichen Regelung ein schwer verständlicher Bruch innerhalb des Fahreignungs-Bewertungssystems vor, da einerseits die Verfehlung der „Schrittfolge“ der Maßnahmen nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG n.F. zu einer Punkteverminderung führt, andererseits eine Punktereduktion ausgeschlossen ist, wenn die Abfolge der Maßnahmen eingehalten ist, obwohl weder Ermahnung noch Verwarnung auf den Fahrerlaubnisinhaber haben einwirken können, weil er seinen letzten Verstoß bereits vor Ergreifen dieser Maßnahme verübt hatte, die Maßnahme also gleichsam „zu spät kommt“. Wenn etwa die am 1. August 2013 vom Kläger begangene Geschwindigkeitsüberschreitung vor dem Zeitpunkt der Verwarnung rechtskräftig und der Fahrerlaubnisbehörde bekannt geworden wäre, hätte die Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG n.F. stattfinden müssen, während dies unter den gegebenen Umständen ausschied. Damit könnten in Hinblick auf die Gefährdungsprognose gleichwertige Fälle aufgrund zufälliger oder jedenfalls wie Zufall erscheinender Verzögerungen bei der Kenntniserlangung durch die Fahrerlaubnisbehörde unterschiedlich behandelt werden. Diese möglichen Zufälligkeiten sind jedoch sachlich gerechtfertigt und damit nicht willkürlich. Das Abrücken vom Tattagsprinzip und das Abstellen auf den Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde sind von der sachlichen Erwägung, Gefahren durch ungeeignete Fahrerlaubnisinhaber effektiver abzuwehren, getragen. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass es trotz ähnlicher Lebenssachverhalte zu zufällig erscheinenden, unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Denn zu welchem Zeitpunkt ein Verkehrsverstoß ins Fahreignungsregister eingetragen wird, hängt von zahlreichen, vom betreffenden Fahrerlaubnisinhaber teilweise nicht zu beeinflussenden Faktoren ab (etwa Dauer des Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens, Einlegung von Rechtsbehelfen, Übermittlung des Ergebnisses nach Abschluss des Verfahrens an das Kraftfahrt-Bundesamt und die Zeitdauer der dortigen Bearbeitung der Sache).
Der Wegfall der Warn- und Erziehungsfunktion der Maßnahmestufen durch die Rechtsänderungen in § 4 StVG n.F. verstößt nicht gegen das aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Rückwirkungsverbot (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 7. Oktober 2015 – 16 B 554/15 – juris, Rdnr. 27 ff.; OVG Bautzen, Beschluss vom 7. Juli 2015 – 3 B 118/15 – juris, Rdnr. 15 ff.). Das mit dem Rückwirkungsverbot geschützte Vertrauen tritt zurück, weil sich kein schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand des bisher geltenden Rechts und der Warn- und Erziehungsfunktion des Maßnahmenkatalogs bilden konnte. Ein schützenswerter Vertrauenstatbestand und eine hierauf beruhende Vertrauensbetätigung, dass nach der Anhäufung einer Mehrzahl von geahndeten und registrierten Verkehrsverstößen weitere Verstöße begangen werden können, ohne dass im Interesse der Sicherheit des Straßenverkehrs präventive Maßnahmen getroffen werden könnten, ist nicht anzuerkennen. Das Vertrauen eines Verkehrsteilnehmers, bis zum Ergehen einer Ermahnung oder Verwarnung weiterhin Verkehrszuwiderhandlungen begehen zu „dürfen“, ohne dass dieses Verhalten unter Anlegung formalisierter Kriterien (Punktezahl) zu der Einschätzung führt, dass dieser Fahrerlaubnisinhaber zu der Gruppe der besonders gefährlichen Intensivtäter gerechnet und entsprechend sanktioniert werden muss, ist von vorneherein nicht schutzwürdig. Aus diesem Grund ruft auch das Fehlen einer Übergangsregelung im Straßenverkehrsgesetz keine rechtsstaatlichen Bedenken hervor.
Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. führt ein Punktestand von acht Punkten zwingend zur Entziehung der Fahrerlaubnis. Ein Ermessen ist der Fahrerlaubnisbehörde nicht eröffnet. Die vom Kläger geltend gemachte gravierende Härte, weil er bei einer Entziehung der Fahrerlaubnis mit der Kündigung seines Arbeitsplatzes zu rechnen habe, muss in Hinblick auf die höchstrangigen Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit der anderen Verkehrsteilnehmer, welche die Verkehrsteilnahme eines ungeeigneten Fahrerlaubnisinhabers gefährdet, zurücktreten (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 15. November 2004 – 10 S 2194/04 – juris, Rdnr. 12; OVG Münster, Beschluss vom 24. Februar 2015 – 16 B 1487/14 – juris, Rdnr. 11).
Rein vorsorglich weist die Kammer darauf hin, dass der Kläger auch vor dem rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens nicht berechtigt ist, ein Kraftfahrzeug zu führen. Seine Klage hat nämlich nach § 4 Abs. 9 StVG n.F. keine aufschiebende Wirkung. Den Beschluss der Kammer, mit dem sie die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat, hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bereits mit Beschluss vom 7. August 2015 aufgehoben.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Sätze 1 und 2 ZPO.