OLG Düsseldorf, Urteil vom 29.09.2015 - I-1 U 151/14
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 25. September 2014 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 1. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden den Beklagten als Gesamtschuldnern auferlegt.
Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Berufung der Beklagten, mit der sie allein die im Urteil des Landgerichts festgestellte Haftungsverteilung angreifen, ist unbegründet. Sie erreichen mit ihrem Rechtsmittel nicht die beantragte vollständige Klageabweisung. Sie sind jedenfalls in dem durch das Landgericht ausgesprochenen Umfang von 30 % zum Ersatz der dem Kläger entstandenen materiellen und immateriellen Schäden verpflichtet.
Die Beklagten verkennen, dass der Zusammenstoß zwischen dem durch den Kläger gesteuerten Motorrad und dem PKW Opel Astra der Beklagten zu 1. für diese weder ein unabwendbares Ereignis darstellte, noch dass sie an der Entstehung des Schadensereignisses schuldlos war. Vielmehr steht nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Tatsachenaufklärung fest, dass die Beklagte zu 1. ihren strengen Sorgfaltspflichten als wendende Verkehrsteilnehmerin nicht gerecht geworden ist. Die von ihrem Fahrzeug ausgegangene Betriebsgefahr, die wegen des Wendevorganges ohnehin schon erhöht war, hat aufgrund der erwiesenen Tatsache noch einmal eine Steigerung erfahren, dass die Beklagte zu 1. vorkollisionär nicht ihrer Verpflichtung zur Beobachtung der rückwärtigen Verkehrssituation nachgekommen war. Darüber hinaus lässt sich nicht feststellen, dass sie die beabsichtigte Richtungsänderung rechtzeitig durch die vorgeschriebene Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers angekündigt hatte.
Die Beklagten argumentieren an dem eindeutigen Ergebnis der erstinstanzlichen Tatsachenaufklärung vorbei, indem sie weiterhin die Richtigkeit des Vorbringens des Klägers in Abrede stellen, dass dem Zusammenstoß auf der A-Straße in Stadt 1 in Höhe des Hauses Nummer ... ein Wendevorgang des PKW Opel Astra vorausging. Dieser wurde zu einem plötzlichen Hindernis für den Kläger, der im Baustellenbereich verbotswidrig auf der für seine Fahrtrichtung gesperrten linken Spur überholte.
Darüber hinaus machen die Beklagten ohne Erfolg geltend, die Beklagte zu 1. habe unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten nicht damit rechnen müssen, am Ende der einspurigen Verkehrsführung im Baustellenbereich mit der sich dort öffnenden Linksabbiegerspur noch von einem Verkehrsteilnehmer überholt zu werden, der zuvor auf die durch Baken abgesperrte provisorische Fahrspur für den Gegenverkehr ausgewichen war. Der entgegenstehenden Ansicht des Landgerichts vermag sich der Senat nicht anzuschließen.
Im Einzelnen ist folgendes auszuführen:
I.
Gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht in seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (BGH NJW 2006, 152 m. Hinweis auf BGHZ 152, 254, 258).
Derartige Zweifel sind weder hinsichtlich der Feststellungen des Landgerichts gegeben, aus welchen sich die Erkenntnis einer schuldhaften Herbeiführung der Kollision auch durch die Beklagte zu 1. ergeben. Noch lässt sich eine korrekturbedürftige Benachteiligung der Beklagten im Hinblick auf die durch das Landgericht ausgesprochene Mithaftungsquote von 30 % der Schäden des Klägers erkennen.
1 a )
Das Landgericht hat ausführlich über den streitigen Hergang des Zusammenstoßes zwischen dem Motorrad fahrenden Kläger und dem durch die Beklagten zu 1. gesteuerten PKW Opel Astra Beweis erhoben. Dies durch Vernehmung von Augenzeugen und Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens des gerichtlich bestellten Sachverständigen, des Dipl. Ing. C. Danach hat die klägerische Version des fraglichen Geschehens eine Bestätigung gefunden. Ausgeschlossen ist, dass die Beklagten zu 1. ihrer Behauptung entsprechend auf der A-Straße am Ende der baustellenbedingten einspurigen Verkehrsführung die bis dahin benutzte Rechts- und Linksabbiegerspur allein zum dem Zweck verlassen hat, ihre Fahrt auf der in Höhe des Hauses Nr. ... freigegebenen zweiten Linksabbiegerspur fortzusetzen. Dem Fahrzeugzusammenstoß war somit kein Fahrstreifenwechsel im Sinne des § 7 Abs. 5 StVO vorausgegangen, sondern die Beklagte zu 1. hatte einen Wendevorgang nach Maßgabe des § 9 Abs. 5 StVO eingeleitet.
b )
Bezüglich der Sorgfaltspflichten, welche die Beklagte zu 1. zu beachten hatte, machte es ohnehin keinen wesentlichen Unterschied, ob sie eine spurwechselnde oder eine wendende Verkehrsteilnehmerin war. Sowohl nach § 7 Abs. 5 StVO als auch nach § 9 Abs. 5 StVO hatte sie sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Abgesehen davon, dass die Beklagte zu 1. die geboten gewesene höchstmögliche Sorgfalt nicht eingehalten hatte, war allerdings die von dem PKW Opel Astra ausgegangene Betriebsgefahr im Zuge des nachgewiesenen Wendevorganges höher als wenn die Beklagte zu 1. vergleichsweise dazu einen einfachen Spurwechsel vorgenommen hätte. Denn ihr Fahrzeug bildete nach der zeichnerischen Unfallrekonstruktion des Sachverständigen ( Anlage A 14 zum Gutachten vom 20.10.2011 ) für den von hinten herannahenden Kläger ein plötzliches Frontalhindernis, dem er trotz einer spontanen Linkslenkung zum Straßenrand hin nicht mehr ausweichen konnte. Die lichtbildlich gesicherte Endstellung der Fahrzeuge ist - aus der Fahrtrichtung der Beteiligten gesehen - am linken Rand der A-Straße gelegen, die mit ihren drei Fahrstreifen nach dem Ende der Baustellenabsperrung im Bereich der Unfallstelle wieder in voller Breite zu befahren war (vgl. die Lichtbilder Bl. 12, 13 Beiakte).
2 )
Auf die Tatsache, dass die Beklagte zu 1. vor dem Fahrzeugzusammenstoß mit dem Motorrad des Klägers einen nach links gerichteten Wendevorgang eingeleitet hatte, deuten bereits ihre Angaben anlässlich ihrer informatorischen Befragung im Termin vom 3. Februar 2011 hin. Sie hat angegeben, sie habe sich mit ihrem Fahrzeug im Moment der Kollisionsberührung auf der Linksabbiegerspur in einer Schrägstellung befunden; aus dieser Position heraus habe sie sich bei Wahrnehmung des immer lauter gewordenen Motorengeräusches des Krades des Klägers "noch schräg zurück gedreht" dann habe "es auch schon geknallt" (Bl. 121, 122 d.A.).
Diese Darstellung lässt darauf schließen, dass zwischen dem Verlassen der äußersten rechten Fahrspur und dem Zusammenstoß eine gewisse Zeit vergangen ist. Insbesondere die von der Beklagten zu 1. mehrfach erwähnte Schrägstellung des PKW Opel Astra war für einen Wendevorgang typisch, der länger angedauert haben muss als dies vergleichsweise bei einem raschen Fahrstreifenwechsel der Fall gewesen wäre.
3 )
Die Bekundungen der durch das Landgericht vernommenen Augenzeugen Z1, Z2 sowie Z3 belegen eindeutig die Richtigkeit der Feststellungen des Landgerichts, dass sich der Zusammenstoß im Zuge eines Wendevorganges der Beklagten zu 1. zugetragen hat.
a )
Die Zeugin Z1 hat ausführlich befragt das streitige Geschehen detailliert geschildert. Danach hat das durch die Beklagte zu 1. gesteuerte Fahrzeug "praktisch in einem rechten Winkel, also so, als wenn jetzt auf der gegenüberliegenden Seite dort eine Einfahrt gewesen wäre" am Ende des einspurigen Sperrbereiches eine Richtungsänderung vorgenommen (Bl. 138 d.A.). Die Zeugin hat ihrer Verwunderung Ausdruck verliehen, "wie man ohne zu blinken in einer solchen Verkehrssituation an dieser Stelle einfach so, augenscheinlich um zu wenden, links abbiegen kann, ohne sich da vielleicht vorsichtig an diese Situation heranzutasten" - und dies bei einem hohen Verkehrsaufkommen (Bl. 140 d.A.). Bereits in ihrem Äußerungsbogen vom 1. Oktober 2008 im Rahmen des Ermittlungsverfahrens 30 Js 7951/08 StA Düsseldorf hatte die Zeugin den durch die Beklagte zu 1. am Unfallort getätigten Ausruf wiedergegeben, sie habe doch nur wenden oder drehen wollen (Bl. 31 Beiakte).
b )
Ähnlich wie die Zeugin Z1 hat auch der Zeuge Z2 bekundet, er habe "eine 90-Grad-Fahrbewegung quer zur Fahrbahn" beobachtet, und zwar nicht nur im Zuge eines einfachen Fahrstreifenwechsels - "das war ja schon extrem" (Bl. 150 d.A.).
c )
Der Zeuge Z3 hatte den Zusammenstoß förmlich kommen sehen. Er beobachtete die rückwärtige Annäherung des Klägers auf dem Motorrad auf der für diesen gesperrten Linksabbiegerspur, während gleichzeitig die Beklagte zu 1. auf dieselbe Spur nicht nur wechselte, sondern "einbog". Nach der weiteren Beobachtung des Zeugen ist dann der Motorradfahrer "mit ordentlicher Geschwindigkeit gegen ihr Fahrzeug geknallt" (Bl. 156 d.A.).
4 )
Zum Nachweis der Richtigkeit des durch den Kläger streitig vorgetragenen Wendevorganges seiner Unfallgegnerin hätte es folglich eigentlich nicht mehr der Einholungeines unfallanalytischen Gutachtens bedurft. Dessen ungeachtet hat das Gutachten des Sachverständigen C vom 20. Oktober 2011 die Authentizität der klägerischen Unfallversion bestätigt. Danach lassen die gesicherten Unfallspuren in Verbindung mit der Endstellung der Fahrzeuge nur den Rückschluss darauf zu, dass die Beklagte zu 1. vorkollisionär mit dem PKW Opel Astra einen Wendevorgang vollzogen hatte ( Seiten 10 und 11 des Gutachtens ). Gemäß der zeichnerischen Unfallrekonstruktion des Sachverständigen kam es - aus der Fahrtrichtung des Beteiligten gesehen - am rechten Rand der äußersten linken Fahrspur zu dem Zusammenstoß, nachdem der Kläger dorthin nach links ausgewichen war. Der Kollisionsort ist nur etwa 2 Meter vom linken Straßenrand entfernt ( Anlage A 14 zum Gutachten ).
5 )
Ohne Erfolg äußern die Beklagten Zweifel hinsichtlich der Validität der durch den Sachverständigen verorteten Unfallstelle mit dem Hinweis darauf, ein von der Polizei in unmittelbarer Nähe der letzten Absperrbake eingezeichnetes Splitterfeld sei von dem Sachverständigen nicht zur Kenntnis genommen worden (Bl. 426 d.A.). Weder das polizeiliche Lichtbildmaterial (Bl. 6 ff. Beiakte) noch die polizeiliche Verkehrsunfallzeichnung lassen ein Spurenfeld an der von der Beklagten behaupteten Stelle erkennen. Darauf hat bereits der Sachverständige in seiner nachträglichen Stellungnahme vom 27. Februar 2012 hingewiesen und überzeugend ausgeführt, ein Zusammenstoß in Höhe der letzten Absperrbake sei mit den zur Verfügung stehenden Anknüpfungspunkten auszuschließen (Bl. 234, 235 d.A.). Entsprechend der durch die Polizei aufgenommenen Spurenlage hat der Sachverständige das fragliche Splitterfeld mit dem Kollisionsort in Verbindung gebracht und es am linken Straßenrand eingezeichnet( Anlage A 14 zum Gutachten vom 20. Oktober 2011 ).
II.
Steht somit ein vorkollisionärer Wendevorgang der Beklagten zu 1. fest, ist sie entsprechend der Begründung des Landgerichts mit der Anscheinsbeweiswirkung schuldhafter Unfallverursachung belastet. Diesen Anschein vermögen die Beklagten nicht zu erschüttern.
1 )
Gemäß § 9 Abs. 5 StVO hat sich ein wendender Verkehrsteilnehmer so zu verhalten, dass eine Gefährdung Anderer ausgeschlossen ist. Der Wendende trägt die Hauptverantwortung für die Sicherheit dieses Fahrmanövers, was allerdings fremde Mitschuld nicht ausschließt (ständige Rechtsprechung des Senats, zuletzt Urteil vom 11. August 2015, Az. I - 1 U 150/14 mit Hinweis auf Henschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage § 9 StVO Rn. 50, dort mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Im Hinblick auf die von den Zeugen übereinstimmend geschilderte Verkehrsdichte auf der A-Straße mit der üblichen abendlichen Stausituation war der von der Beklagten zu 1. gewählte Ort für die Durchführung eines Wendemanövers - noch dazu am Ende einer baustellenbedingten Straßenteilsperrung - denkbar ungeeignet. Bei starkem Verkehr hat ein Wendevorgang an der beabsichtigten Stelle zu unterbleiben und der Verkehrsteilnehmer muss stattdessen einen Umweg fahren (Senat a.a.O. mit Hinweis auf Henschel/König/Dauer a.a.O., dort mit Hinweis auf OLG Hamm VersR 2001, 1169).
2 )
Da mit der Richtungsänderung des PKW Opel Astra von dem rechten auf den linken Fahrstreifen ein Fahrspurwechsel verbunden war, war die Beklagte zu 1. nach Maßgabe des § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO verpflichtet, die gebotene doppelte Rückschau zu halten, um sich über die rückwärtige Verkehrssituation zu vergewissern. Auch musste sie eine Abbiege- bzw. Wendeabsicht rechtzeitig und deutlich ankündigen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 StVO). Bei einer Kollision des Wendenden mit einem im fließenden Verkehr befindlichen Kraftfahrzeug spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des wendenden Verkehrsteilnehmers dahingehend, dass er seinen Sorgfaltspflichten nicht gerecht geworden ist und dadurch den Unfall verursacht hat (Senat a.a.O. mit Hinweis auf Henschel/König/Dauer a.a.O., dort mit zahlreichen weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
3 )
Nach den zutreffenden Feststellungen in dem angefochtenen Urteil war den Erläuterungen des Sachverständigen gemäß der Kläger auf seinem Motorrad für die Beklagte zu 1. bereits bei Einleitung des Wendevorganges als sich ein von hinten auf der gesperrten Fahrspur annähernder Verkehrsteilnehmer erkennbar (Bl .12 UA; Bl. 395 d.A.; Seite 9 des Gutachtens vom 20. Oktober 2011). Dementsprechend hätte die Beklagte zu 1. durch die geboten gewesene sorgfältige Beobachtung des rückwärtigen Verkehrs den Zusammenstoß vermeiden können. Abgesehen davon hätte sie aus den genannten Gründen in Höhe der Unfallstelle auf der A-Straße ohnehin keinen Wendevorgang durchführen dürfen.
4 )
Entgegen den Ausführungen in der Berufungsbegründung der Beklagten kommt es nicht darauf an, dass mit der plötzlichen Richtungsänderung der Beklagten zu 1. auf der A-Straße keine Gefährdung des Gegenverkehrs verbunden war, weil sich Fahrzeuge aus Richtung B-Straße nicht annäherten. Denn ein wendender Verkehrsteilnehmer muss den fließenden Verkehr aus beiden Richtungen vorher vorbeilassen.
5 )
Darüber hinaus war zugunsten der Beklagten zu 1. kein Vertrauensgrundsatz dahingehend einschlägig, dass der Verkehrsraum hinter ihr im Bereich der für ihre Fahrtrichtung gesperrten linken Spur von verkehrsordnungswidrig links überholenden Kraftfahrzeugführern freiblieb.
a )
Nach den Schilderungen der durch das Landgericht vernommenen Zeugen hatte sich auf der im Sperrbereich einspurigen Verkehrsführung eine Stausituation mit Stop and Go-Verkehr gebildet. Wegen der kurzen Grünlichtphase an der Einmündung der A-Straße zur B-Straße kamen die im Stau befindlichen Fahrzeuge nur sehr langsam voran. Entsprechend der Darlegung im angefochtenen Urteil (Bl. 11 UA; Bl. 395 d.A.) kommt es in einer derartigen Verkehrssituation erfahrungsgemäß oft dazu, dass Motorradfahrer die Schnelligkeit und Wendigkeit ihres Motorrades ausnutzen, um - zumeist verkehrsordnungswidrig - in einen freien Straßenraum vorzudringen und so eine Stausituation zu umfahren. Der Kläger hat bei seiner informatorischen Befragung eingeräumt, die für seine Fahrtrichtung gesperrte linke Spur mit ca. 30 bis 40 km/h durchfahren zu haben (Bl. 116 unten d.A.). Diese Geschwindigkeitsangabe hat der Sachverständige bestätigt und noch einmal in seiner Stellungnahme vom 27. Februar 2012 ausgeführt, mangels einer feststellbaren vorkollisionären Abbremsung des Krades entspreche die Kollisionsgeschwindigkeit von 30 bis 40 km/h auch dem Annäherungstempo (B. 235 d.A.). Zudem verlief die Bewegungslinie des Klägers nicht dicht an den rechtsseitigen Absperrbaken vorbei, sondern in einem deutlichen Abstand dazu (Bl. 235 d.A.).
b )
Dass sich die Beklagte zu 1. der Notwendigkeit bewusst war, trotz Sperrung der linken Spur auf die Annäherung von Verkehrsteilnehmern von dort gemäß § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO achten zu müssen, ergibt sich aus den Angaben anlässlich ihrer informatorischen Befragung. Denn sie hat bekundet, sie habe vor dem Wechsel auf die Linksabbiegerspur in ihren Rückspiegel geschaut, dort nur die Baken gesehen und habe bei der nochmaligen Rückschau weiterhin keine Gefahrensituation wahrgenommen, so dass sie dann eben weitergefahren sei (Bl. 119, 120 d.A.). Diese Sachverhaltsschilderung kann im Hinblick auf die Erkenntnisse des Sachverständigen nicht zutreffen, da die rückwärtige Annäherung des Klägers auf dem Motorrad für die Beklagte zu 1. schon zu Beginn des Wendemanövers wahrnehmbar war. Entweder ist die Beklagte zu 1 ihrer Rückschaupflicht nicht hinreichend sorgfältig nachgekommen, oder sie hatte in einem unbegründeten Vertrauen darauf, der Verkehrsraum links hinter ihr bleibe wegen der Sperrung verkehrsfrei, den Wendevorgang ohne jegliche Rückschau begonnen.
6 )
Zwar hat das Landgericht in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ausgeführt, die Beklagte zu 1. habe mit dem durch den Kläger durchgeführten verkehrsregelwidrigen Verhalten aus zwei Gründen nicht rechnen müssen. Zum einen sei das Verkehrsaufkommen zum Unfallzeitpunkt auf der B-Straße als vielbefahrener innerstädtischer Straße erhöht gewesen; zum anderen sei infolge der Baustellenabsperrung die Verkehrslage in ihrer Übersichtigkeit stark eingeschränkt gewesen (Bl. 13 UA; Bl. 396 d.A.). Dieser Würdigung vermag sich der Senat nicht anzuschließen.
a )
Zunächst ist zu berücksichtigen, dass sich das Landgericht mit seiner Begründung in Widerspruch zu seiner vorangegangenen Feststellung wie folgt setzt: Es komme nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht selten dazu, dass Kraftradfahrer die Größe und Wendigkeit ihres Fahrzeuges ausnutzen, um - auch unter Missachtung von Verkehrsregeln - an die Weiterfahrt einschränkenden Hindernissen vorbeizufahren (Bl. 11 UA; Bl. 394 d.A.). Eben im Hinblick auf dieses nicht gerade selten zu beobachtende Verhalten von Motorradfahrern, eine Stausituation verkehrsordnungswidrig zu überholen, war zugunsten der Beklagten zu 1. kein Vertrauensgrundsatz des Inhaltes einschlägig, dass die linke Fahrspur noch zum Zeitpunkt ihres Einscherens von der rechten Spur nach Überwindung einer längeren Stop and Go-Stausituation verkehrsfrei blieb. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die durch das Landgericht festgestellte Unübersichtlichkeit der Verkehrslage infolge der Baustellenabsperrung (Bl. 13 UA; Bl. 369 d.A.). Die Beklagte zu 1. hatte offensichtlich die Verkehrssituation aufgrund der Tatsache falsch eingeschätzt, dass die Fahrspur links neben ihr längere Zeit verkehrsfrei geblieben war. In einem nicht gerechtfertigten Vertrauen auf den Fortbestand einer solchen kurzfristigen Verkehrsruhe leitete sie dann das Abbiegemanöver ein. Dabei hat sie entweder nicht hinreichend sorgfältig den rückwärtigen Verkehr beobachtet, weil sie nur Absperrbaken gesehen haben will; oder sie hatte überhaupt von jeglicher Rückschau abgesehen.
b )
Unabhängig von den obigen Ausführungen darf sich ohnehin nur ein sich selbst richtig verhaltender Verkehrsteilnehmer auf den Vertrauensgrundsatz des Inhaltes berufen, dass andere Verkehrsteilnehmer die für sie geltenden Vorschriften beachten und den Verkehr nicht pflichtwidrig gefährden (BGH NJW 2003, 1929). Es lässt sich indes nicht feststellen, dass die Beklagte zu 1. dem Gebot des § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO folgend ihre beabsichtigte Fahrtrichtungsänderung rechtzeitig und deutlich angekündigt hatte.
aa )
Im Gegensatz zu der Bekundung der Beklagten zu 1. bei ihrer informatorischen Befragung, zwischen der ersten und der zweiten Rückschau den Blinker gesetzt zu haben (Bl. 120 d.A.), steht die Schilderung des Klägers. Danach sei die Unfallgegnerin so plötzlich ohne Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers auf die durch ihn befahrene Linksabbiegerspur eingeschwenkt, dass er keine Möglichkeit mehr zur Abwendung des Zusammenstoßes gehabt habe (Bl. 116, 119 d.A.). Wie bereits ausgeführt, ist die Beklagte zu 1. als wendende Verkehrsteilnehmerin mit dem Anschein schuldhafter Unfallverursachung belastet. Sie muss demnach den Nachweis führen, sich vorkollisionär verkehrsrichtig auch in dem Sinne verhalten zu haben, dass sie die beabsichtigte Richtungsänderung rechtzeitig durch die Betätigung des linken Blinkers angezeigt hatte. Diesen Nachweis vermag sie nach dem Ergebnis der Zeugenvernehmung nicht zu führen.
bb )
Denn die Zeugin Z1 hat bekundet, der PKW Opel-Astra sei plötzlich nach links abgebogen, so als ob man habe wenden wollen, ,,ohne Blinker, ohne alles‘‘ (Bl. 138 d.A.). Der Zeuge Z2 konnte sich nicht daran erinnern, an dem durch die Beklagte zu 1. gesteuerten Fahrzeug den linken Fahrtrichtungsanzeiger in Funktion gesehen zu haben (Bl. 152 d.A.).
cc )
Allein der Zeuge Z3 meinte sich zu erinnern, die Beklagte zu 1. habe vorkollisionär den linken Blinker gesetzt (Bl. 161 d.A.). Abgesehen davon, dass er dazu in seiner schriftlichen Äußerung als Zeuge vom 23. September 2008 im Ermittlungsverfahren keine Angabe gemacht hatte, sieht sich der Senat außerstande, der Darstellung des Zeugen Z3, was die Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers anbelangt, den Vorzug gegenüber der anders lautenden Darstellung der Zeugin Z1 einzuräumen. Selbst wenn die Beklagte zu 1. aber vor dem Zusammenstoß noch den linken Blinker in Funktion gesetzt hätte, wäre jedenfalls nicht feststellbar, dass dies nach Maßgabe des § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO in der gebotenen Weise rechtzeitig geschehen wäre. Denn nach den Aussagen der Zeugen Z1 und Z2 vollzog sich der Spurwechsel der Beklagten zu 1. so schnell und unvermittelt, dass der Kläger keine Möglichkeit zur Abwendung des Kollisionskontaktes mehr hatte.
III.
Unstreitig ist dem Kläger die vorsätzliche Begehung einer Verkehrsordnungswidrigkeit anzulasten. Diese war die maßgebliche Ursache für die Entstehung des Zusammenstoßes.
1 a )
Nach der einspurigen Verkehrsregelung im Baustellenbereich war für ihn die Einleitung eines Überholvorganges durch die Inanspruchnahme der für den Gegenverkehr bestimmten provisorischen linken Fahrspur verboten. Das zu Beginn des Absperrbereiches aufgestellte Verkehrszeichen 222 der laufenden Nummer 10 der Anlage 2 zur Straßenverkehrsordnung ("Rechts vorbei") ordnete die einspurige Weiterfahrt auf dem äußersten rechten Fahrstreifen an.
b )
Hinzu kam, dass die ausweislich des polizeilichen Lichtbildmaterials hintereinander aufgestellten fünf rot/weißen Absperrbaken die unterbrochene Leitlinie zwischen den beiden Fahrspuren mit der Wirkung einer durchgehenden Fahrstreifenbegrenzung aufhoben - und zwar so, als ob auf dem von der Baustelleneinrichtung betroffen gewesenen Streckenabschnitt eine durchgehende Linie gemäß dem Zeichen 295 der laufenden Nummer 68 der Anlage 2 zur Straßenverkehrsordnung gezogen gewesen wäre. Eine Mittellinie als Fahrstreifenbegrenzung verbietet das Überholen, wenn dies - wie im vorliegenden Fall - nur unter Inanspruchnahme der abgegrenzten anderen Fahrbahnhälfte möglich wäre ( Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., § 2 StVO, Rnr. 92 m. Hinweis auf BGH DAR 1987, 283). Wer im Überholen begriffen ist, darf nicht links an der durchgehenden Mittellinie weiterfahren, sondern er muss den Überholvorgang vor dem Linienbeginn abbrechen (Burmann/ Heß/Jahnke/Janker a.a.O., Rnr. 92 m. Rsprnw.). Die Verkehrsregelung bewirkt deshalb mittelbar ein Überholverbot (Burmann/Heß/Jahnke/Janker a.a.O. m. Hinweis OLG Hamm StVE 88 zu § 41 StVO). Der Kläger kann somit nichts aus der Tatsache für sich herleiten, dass er den Überholvorgang an einer Stelle der A-Straße eingeleitet hatte, die noch vor dem Zeichen 222 der laufenden Nummer 10 der Anlage 2 zur Straßenverkehrsordnung und der Reihe der Absperrbaken gelegen war. Im Ergebnis muss sich der Kläger also so behandeln lassen, als habe er vorsätzlich gegen ein Überholverbot gemäß § 5 Abs. 3 Ziffer 2 StVO verstoßen.
2 )
Hinzu kommt, dass er den Überholvorgang in Anbetracht der Stausituation rechts neben ihm entgegen der Vorgabe des § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO mit der überhöhten Fahrgeschwindigkeit von 30 bis 40 km/h durchgeführt hatte. Er musste gegen Ende der Teilsperrung der A-Straße damit rechnen, dass wegen der dortigen Freigabe der zweiten Linksabbiegerspur für seine Fahrtrichtung andere Verkehrsteilnehmer aus der Fahrzeugschlange rechts neben ihm - möglicherweise nicht rechtzeitig angekündigt - nach links ausscheren würden. Auf eine solche Gefahrensituation hatte er seine Fahrtgeschwindigkeit von vornherein einzustellen.
IV.
Bei der Abwägung aller unfallursächlichen Umstände gemäß §§ 17 StVG dürfen zu Lasten einer Partei nur solche Tatsachen berücksichtigt werden, auf welche sie sich entweder selbst beruft oder die unstreitig oder erwiesen sind. Diese Abwägung fällt einerseits zu Lasten des Klägers aus. Andererseits darf der die Beklagte zu 1. belastende Verursachungs- und Verschuldensanteil nicht als so gering angesehen werden, dass er bei der Gewichtung nicht mehr mithaftungsbegründend ins Gewicht fällt.
1 )
Kollidiert ein wendender Fahrer mit einem Teilnehmer des bevorrechtigten fließenden Verkehrs, führt dies in aller Regel zu einer Alleinhaftung des Ersteren. Diese Quotierung kann hier aber aufgrund der Tatsache nicht maßgeblich sein, dass der Kläger bei der Annäherung an den Kollisionsort um des schnelleren Fortkommens willen verkehrsordnungswidrig und vorsätzlich einen dem Gegenverkehr vorbehaltenen Fahrstreifen in Anspruch genommen hatte.
2 )
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kommt es zu einer Haftungsverteilung im Verhältnis von 1/3 zu 2/3 zu Lasten eines trotz unklarer Verkehrslage überholenden Kraftfahrzeugführers, wenn dieser mit einem Linksabbieger in ein Grundstück kollidiert, dem ein Verstoß gegen dessen doppelte Rückschaupflicht anzulasten ist (Urteile vom 30. September 2014, Az.: I-1 U 163/13 sowie I-1 U 208/13). Vergleichbar dazu ist dem Kläger vorzuhalten, unzulässigerweise einen Überholvorgang mit zudem überhöhter Geschwindigkeit eingeleitet zu haben. Die Sorgfaltspflichten der Beklagten zu 1. als der wendenden Verkehrsteilnehmerin entsprachen nach Maßgabe des § 9 Abs. 5 StVO denjenigen, die ein Abbieger in ein Grundstück zu beachten hat.
3 )
Zudem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Beklagte zu 1. sich zur Durchführung eines Wendemanövers auf einer innerstädtischen Straße an einer Stelle entschieden hatte, die dazu wegen der Stausituation und den baustellenbedingten Fahrbahnbeschränkungen völlig ungeeignet war. Das polizeiliche Lichtbildmaterial (vgl. insbesondere Foto Bl. 10 BA) lässt nicht erkennen, dass die Beklagte zu 1. auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Toreinfahrt oder eine ähnliche Ausweichmöglichkeit hätte ansteuern können, welche ihr die Durchführung des Wendevorgangs ineinem Zug ermöglicht hätte.
4 )
Eine Reduzierung der Mithaftungsquote der Beklagten auf einen Anteil von weniger als 30 % scheidet aus. Denn eine solche Quotierung kommt in den Fällen der Anrechnung der einfachen Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs in Betracht, wenn dem eine Verschuldenshaftung des anderen Unfallbeteiligten entgegensteht. Im vorliegenden Fall war die von dem PKW Opel Astra ausgegangene Betriebsgefahr jedoch wegen des pflichtwidrigen Verhaltens der Beklagten zu 1. deutlich erhöht.
V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Anordnung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hat ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Der Gegenstandswert für den Berufungsrechtszug beträgt 9.997,45 €.
Zur Zulassung der Revision besteht kein Anlass, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.