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LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Urteil vom 26.04.2016 - L 13 SB 238/13

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 12. September 2013 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 25. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2011 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 15. Oktober 2013 verpflichtet, zugunsten der Klägerin ab dem 26. April 2016 die Voraussetzungen des Merkzeichens aG festzustellen.

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zur Hälfte zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin streitet über die Zuerkennung des Merkzeichens aG.

Die im Jahr 1957 geborene Klägerin leidet an mehreren Funktionsbeeinträchtigungen, vor allem auf orthopädischem und psychosomatischem Gebiet. Vor dem hier streitbefangenen Verfahren hatte der Beklagte mit Bescheid vom 22. Dezember 2006 zuletzt einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 und das Merkzeichen G zuerkannt. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

Am 27. Oktober 2010 beantragte die Klägerin die Neufeststellungen ihrer Behinderungen und die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens aG. Mit Bescheid vom 25. Januar 2011 und Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2011 lehnte der Beklagte diesen Antrag ab, weil nach Durchführung medizinischer Ermittlungen die Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Im anschließenden Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Potsdam hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung nach Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. A ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, der GdB betrage 60, die Klägerin könne noch kurze Wegstrecken selbständig zurückzulegen. Durch später angenommenes Teilanerkenntnis vom 20. März 2013 hat der Beklagte den GdB auf den Wert von 60 erhöht. Mit Urteil vom 12. September 2013 hat das Sozialgericht die Klage, soweit sie nicht erledigt war, abgewiesen, da die Voraussetzungen des Merkzeichens aG nicht vorlägen.

Mit ihrer Berufung zum Landessozialgericht verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter, die Zuerkennung des Merkzeichens aG zu erreichen. Sie macht geltend, sie könne sich nur mit äußerster Mühe fortbewegen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 12. September 2013 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 25. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2011 in der Fassung des Ausführungsbescheides vom 15. Oktober 2013 zu verpflichten, zugunsten der Klägerin ab dem 26. April 2016 die Voraussetzungen des Merkzeichens aG festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung der Facharzt für Orthopädie Dr. Ah am 3. Dezember 2014 ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, die Klägerin könne in geschlossenen Räumen noch selbständig 10 bis 15 Meter Weg an Wegstrecke zurücklegen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Gründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist auch in dem zuletzt aufrecht erhaltenen Umfang begründet. Die angefochtenen Entscheidungen sind insoweit rechtswidrig und waren zu ändern, der Klägerin steht ab dem Tage der mündlichen Verhandlung, dem 26. April 2016, das Merkzeichen aG zu.

Rechtsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX). Danach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen aG einzutragen ist (Bundessozialgericht, Urteil vom 11. August 2015, B 9 SB 2/14 R, juris, Rn. 9).

Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschn. II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 Verwaltungsvorschriften Straßenverkehrsordnung. Diese Verwaltungsvorschriften sind als allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung nach Art. 84 Abs. 2 Grundgesetz (GG) wirksam erlassen worden (BSG, a.a.O., juris Rn. 10).

Danach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen zunächst die Personen, die unter die so genannten Regelbeispiele fallen, das heißt Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexpartikulierten und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind. Unter diesen Personenkreis fällt die Klägerin nicht.

Jedoch sind auch die so genannten Gleichstellungsfälle einzubeziehen, das heißt andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Weitere Konkretisierungen finden sich außerdem in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (versorgungsmedizinische Grundsätze), für die eine hinreichende gesetzgeberische Ermächtigung besteht (BSG, a.a.O., juris Rn. 12).

Für die Gleichstellung des Personenkreises ist an dem individuellen Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen (BSG, a.a.O., juris Rn. 21). Dabei lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren. Grundsätzlich sind hierzu weder ein gesteigerter Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke oder prozentuale Zeitwerte geeignet. Denn die maßgeblichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke sich ein schwerbehinderter Mensch außerhalb seines Kraftfahrzeuges wie oft und in welcher Zeit zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich „nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung“. Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb seines Kraftfahrzeuges erfüllt, qualifiziert sich für den Nachteilsausgleich aG (BSG, a.a.O., juris Rn. 21).

Ob die danach erforderlichen Voraussetzungen vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck stützen kann. Dabei stellt das alleinige Abstellen auf ein einzelnes, starres Kriterium vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes in Art. 3 Abs. 1 GG in der Regel keine sachgerechte Beurteilung dar, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (BSG, a.a.O., juris Rn. 23).

Der Senat hat entsprechend den vorgenannten Kriterien zunächst ein medizinisches Sachverständigengutachten des Orthopäden Dr. A eingeholt und sich sodann im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 26. April 2016 einen persönlich vermittelten Eindruck der Klägerin verschafft. Hiernach ist der Senat gemäß § 128 SGG zu der Überzeugung gelangt, dass jedenfalls ab dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2016 die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches vorliegen. Denn jedenfalls ab diesem Zeitpunkt steht für den Senat zweifelsfrei fest, dass sich die Klägerin außerhalb eines Kraftfahrzeuges schon ab den ersten Metern nur mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Zwar hatte der Sachverständige noch eine Gehfähigkeit für wenige Meter bescheinigt, doch er hatte die entsprechenden Untersuchungen ausschließlich in seinen Praxisräumen durchgeführt und nicht an den Maßstäben des Straßenverkehrs außerhalb geschlossener Räumlichkeiten gemessen. Es spricht für den Senat schon manches dafür, dass auch zum Zeitpunkt der Untersuchung durch den Sachverständigen die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG vorgelegen haben könnten.

Dies bedarf indessen keiner weiteren Prüfung, ebenso wenig waren auch die von der Klägerin vorgelegten neuen Ergebnisse der Durchführung bildgebender Verfahren dem Sachverständigen zuzuleiten, denn der Senat hat sich zusätzlich aufgrund des persönlich vermittelten Eindrucks der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 26. April 2016 die Gewissheit verschaffen können, das es der Klägerin nicht möglich ist, unter den schwierigen Verhältnissen des üblichen Straßenverkehrs nach Verlassen eines Kraftfahrzeuges sich ohne fremde Hilfe fortzubewegen. Sie bedarf auf Grundlage der zahlreichen orthopädischen Einschränkungen schon ab den ersten Metern einer helfenden Unterstützung durch eine Begleitperson und qualifiziert sich hiermit für die Voraussetzungen des Merkzeichens aG.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausmaß des wechselseitigen Unterliegens.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Lukas Jozefaciuk