Bayerischer VGH, Beschluss vom 18.08.2015 - 11 CE 15.1217
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
III. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
IV. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Neuerteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C, C1, C1E und CE, ohne hierfür seine Befähigung in einer theoretischen und einer praktischen Prüfung nachweisen zu müssen.
Der 1973 geborene Antragsteller erwarb 1993 die Fahrerlaubnis der damaligen Klasse 3 und 1999 die Fahrerlaubnis der damaligen Klasse 2. Mit Bescheid vom 11. Januar 2007 entzog ihm das Landratsamt Fürstenfeldbruck unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis nach Vorlage eines Fahreignungsgutachtens, das wegen Trunkenheitsfahrten angeordnet worden war und dem zufolge zu erwarten sei, dass der Antragsteller auch zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde. Mit Beschluss vom 7. Mai 2007 (Az. M 6a S 07.1243) lehnte das Verwaltungsgericht München den Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen diesen Bescheid ab und wies mit Urteil vom 9. Januar 2008 (Az. M 6a K 07.1742) die Klage auf Aufhebung des Bescheids und des zwischenzeitlich ergangenen Widerspruchsbescheids vom 12. April 2007 ab. In der Folgezeit verurteilte das Amtsgericht Fürstenfeldbruck den Antragsteller mit Strafbefehl vom 13. Januar 2009 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zehn Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung, zu einer Geldstrafe. Ein im Neuerteilungsverfahren vom Antragsteller im Jahr 2009 beigebrachtes medizinisch-psychologisches Gutachten kam zu dem Ergebnis, es sei weiterhin zu erwarten, dass der Antragsteller auch zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde.
Nachdem der Antragsteller im März 2015 ein positives medizinisch-psychologisches Gutachten vorgelegt hatte, erteilte ihm das Landratsamt die Fahrerlaubnis für die Klassen B und BE und teilte ihm mit Schreiben vom 20. März 2015 mit, die Tatsache, dass er nun seit mehr als acht Jahren nicht mehr im Besitz einer Fahrerlaubnis der Klassen C, C1, C1E und CE sei, rechtfertige die Annahme, dass er die erforderlichen theoretischen und praktischen Kenntnisse und Fähigkeiten für diese Klassen nicht mehr besitze. Er müsse deshalb für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis dieser Klassen die Fahrerlaubnisprüfung ablegen.
Mit Beschluss vom 15. Mai 2015 hat das Verwaltungsgericht München den (sinngemäß gestellten) Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung die Fahrerlaubnis der Klassen C, C1, C1E und CE ohne vorherige Ablegung einer Fahrerlaubnisprüfung vorläufig zu erteilen und ihm für dieses Verfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, abgelehnt. Es sei dem Gericht regelmäßig verwehrt, mit seiner Entscheidung die Hauptsache vorwegzunehmen. Der Antragsteller habe keinen Anordnungsanspruch auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis für die fraglichen Klassen ohne vorherige Ablegung einer Befähigungsprüfung glaubhaft gemacht. Die lange Zeitspanne von über acht Jahren, in der der Antragsteller nicht Inhaber einer Fahrerlaubnis gewesen sei, rechtfertige die Annahme, dass er nicht mehr über die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge. Die Verkehrssicherheit erfordere für die Fahrerlaubnis der Klassen C, C1, C1E und CE Nachweise, die über die Anforderungen für die Fahrerlaubnisklassen AM, B, BE und L hinausgingen. In der für den Antragsteller führerscheinlosen Zeit seit Januar 2007 seien erhebliche Änderungen der Verkehrsvorschriften eingetreten. Auch die Verkehrsdichte habe zugenommen. Weder die Fahrpraxis des Antragstellers in der Zeit von Februar bis Mai 2008, in der er keine Fahrerlaubnis besessen habe, noch Fahrten auf privatem Gelände oder die Weiterbildung nach dem Berufsfahrerqualifikationsgesetz könnten zu einem Verzicht auf die theoretische und praktische Fahrerlaubnisprüfung führen.
Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, lässt der Antragsteller im Wesentlichen ausführen, er sei im Laufe seines Berufslebens bei verschiedenen Unternehmen als LKW-Fahrer tätig gewesen und habe 2011 erfolgreich eine Ausbildung zum Baumaschinenführer absolviert. Er sei am 8. Mai 2015 ein Arbeitsverhältnis mit einem Zeitarbeitsunternehmen als Auslieferungsfahrer eingegangen. Das Arbeitsentgelt reiche jedoch zum Bestreiten des Lebensunterhalts kaum aus. Bewerbungen auf besser bezahlte Stellen für LKW-Fahrer, Bagger- und Baumaschinenführer seien wegen der hierfür erforderlichen Fahrerlaubnisklassen nicht erfolgreich gewesen. Allein die Zeitspanne von über acht Jahren, in der er über keine Fahrerlaubnis verfügt habe, rechtfertige nicht die Annahme, dass er die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht mehr besitze. Zuvor habe er über einen Zeitraum von insgesamt mehr als zehn Jahren Lastkraftwagen verschiedenster Typen und Schaltvarianten im Straßenverkehr geführt. Die hierdurch gewonnene Erfahrung werde auch durch eine jahrelange Fahrpause nicht aufgehoben. Außerdem bewege er derzeit im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit ein Fahrzeug mit Kastenaufbau, das über 2 m breit und knapp 7 m lang sei. Die hierfür erforderliche Befähigung unterscheide sich von derjenigen für die Fahrerlaubnis der Klassen C, C1, C1E und CE nur geringfügig.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vom Antragsgegner vorgelegten Unterlagen und auf die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde, bei deren Prüfung der Senat auf die vorgetragenen Gründe beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), hat keinen Erfolg.
1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um u.a. wesentliche Nachteile abzuwenden. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antragsteller einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch glaubhaft macht. Eine Vorwegnahme der Hauptsache kommt allerdings nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, wenn das Abwarten der Hauptsacheentscheidung für den Antragsteller schwere und unzumutbare, nachträglich nicht mehr zu beseitigende Nachteile zur Folge hätte (BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – NVwZ-RR 2014, 558). Die begehrte Regelung muss zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig sein und es muss ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache sprechen (Kopp/Schenke, VwGO, 21. Auflage 2015, § 123 Rn. 14 m.w.N.).
a) Befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, wer ausreichende Kenntnisse der für das Führen von Kraftfahrzeugen maßgebenden gesetzlichen Vorschriften hat, mit den Gefahren des Straßenverkehrs und den zu ihrer Abwehr erforderlichen Verhaltensweisen vertraut ist, die zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeugs, gegebenenfalls mit Anhänger, erforderlichen technischen Kenntnisse besitzt und zu ihrer praktischen Anwendung in der Lage ist und über ausreichende Kenntnisse einer umweltbewussten und energiesparenden Fahrweise verfügt und zu ihrer praktischen Anwendung in der Lage ist (§ 2 Abs. 5 StVG). Diese Befähigung muss der Bewerber um eine Fahrerlaubnis in einer theoretischen und praktischen Prüfung nachweisen (§§ 15 bis 17 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr [Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV] vom 18.12.2010 [BGBl I S. 1980], zuletzt geändert durch Verordnung vom 16.12.2014 [BGBl I S. 2213]). Zwar gilt das Erfordernis des Befähigungsnachweises bei der Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung oder nach vorangegangenem Verzicht grundsätzlich nicht (§ 20 Abs. 1 Satz 2 FeV). Die Fahrerlaubnisbehörde ordnet jedoch dann eine Fahrerlaubnisprüfung an, wenn Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass der Bewerber die nach § 16 Abs. 1 und § 17 Abs. 1 FeV erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht mehr besitzt (§ 20 Abs. 2 FeV). Es handelt sich dabei um eine gebundene Entscheidung. Die Fahrerlaubnisbehörde hat nicht mehr die Möglichkeit, im Wege einer Ermessensentscheidung auf die Fahrerlaubnisprüfung zu verzichten (so noch § 20 Abs. 2 FeV in der bis 15.1.2009 geltenden Fassung).
Bei der insoweit vorzunehmenden Gesamtschau und der Würdigung der Umstände des Einzelfalls kommt dem Zeitfaktor (Zeiten vorhandener oder fehlender Fahrpraxis) eine wesentliche Bedeutung zu (BayVGH, B.v. 19.9.2013 – 11 ZB 13.1396 – juris Rn. 4; U.v. 17.4.2012 – 11 B 11.1873 – juris Rn. 28; OVG NW, B.v. 22.3.2012 – 16 A 55.12 – juris Rn. 9; SächsOVG, B.v. 30.9.2014 – 3 D 35.14 – juris Rn. 7; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Auflage 2015, § 20 FeV Rn. 2; ebenso zur Verlängerung von Fahrerlaubnissen der Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE und D1E gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 FeV BVerwG, U.v. 27.10.2011 – NJW 2012, 696 unter Bestätigung von BayVGH, U.v. 19.7.2010 – 11 BV 10.712 – juris). Daran hat auch die Ersetzung der früher geltenden starren Zwei-Jahres-Frist nach der Entziehung der Fahrerlaubnis in § 20 Abs. 2 und § 24 Abs. 2 FeV, bei deren Überschreiten nach altem Recht zwingend eine nochmalige Fahrprüfung abzulegen war (§ 20 Abs. 2 FeV in der bis 28.10.2008 geltenden Fassung), durch eine Einzelfallprüfung nichts geändert. Der Verordnungsgeber geht zwar grundsätzlich davon aus, dass die Befähigung auch nach zwei Jahren fehlender Fahrpraxis zunächst fortbesteht. Es liegt jedoch auf der Hand, dass eine über einen deutlich längeren Zeitraum fehlende Fahrpraxis – zumal vor dem Hintergrund technischer Neuerungen bei den eingesetzten Omnibussen und Lastkraftwagen und der an das Führen solcher Kraftfahrzeuge gegenüber dem Führen von Personenkraftwagen zu stellenden gesteigerten Anforderungen – Zweifel an der fortbestehenden Befähigung zum sicheren Führen dieser Fahrzeuge entstehen lassen kann. Aus Gründen der Sicherheit des Verkehrs ist es deshalb geboten, für die Notwendigkeit einer erneuten Fahrerlaubnisprüfung danach zu differenzieren, wie lange der erstmalige Nachweis der klassenspezifischen Fahrbefähigung für Omnibusse oder Lastkraftwagen schon zurückliegt, wie lange – und ob regelmäßig oder nur sporadisch – der Betroffene von dieser Fahrerlaubnis Gebrauch gemacht hat und wie lange eine danach möglicherweise liegende Phase mangelnder Fahrpraxis angedauert hat (BVerwG, U.v. 27.10.2011 a.a.O. S. 697). Der Verlust der Befähigung wird umso eher anzunehmen sein, je weiter die früher maßgebliche Zweijahresgrenze überschritten ist (Haus in Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 1. Auflage 2014, § 20 FeV Rn. 29).
b) Gemessen daran hat das Verwaltungsgericht den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung, den Antragsgegner zur vorläufigen Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen C, C1, C1E und CE unter Verzicht auf die Fahrerlaubnisprüfung zu verpflichten, trotz der beruflichen Situation des Antragstellers zu Recht abgelehnt. Der Antragsteller hat auch im Beschwerdeverfahren keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, der eine Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigen würde. Er mag zwar in der Zeit nach der erstmaligen Erteilung der damaligen Fahrerlaubnis der Klasse 2 bis zu deren Entzug mit Bescheid vom 11. Januar 2007 durch seine berufliche Tätigkeit Fahrpraxis in erheblichem Umfang gewonnen haben. Allerdings sind seither mehr als acht Jahre vergangen. Der Zeitraum von Februar bis Mai 2008 kommt dem Antragsteller nicht zugute, da er in dieser Zeit nicht mehr im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis war. Der Zeitraum ohne berücksichtigungsfähige Fahrpraxis ist somit mittlerweile länger als die Zeit, in der der Antragsteller entsprechende Fahrzeuge im Besitz der hierfür erforderlichen Fahrerlaubnis gefahren hat, und überschreitet die frühere Zweijahresgrenze um mehr als das Vierfache. Zwar wird es dem Antragsteller aufgrund seiner früheren Fahrpraxis und seiner nunmehrigen Tätigkeit als Auslieferungsfahrer sicherlich leichter fallen als einem Fahranfänger, sich mit größeren Fahrzeugen, für die die Fahrerlaubnis der Klassen C, C1, C1E und CE erforderlich ist, im Straßenverkehr zurechtzufinden. Auch mag die erworbene Qualifikation im Rahmen der Baumaschinenführer-Ausbildung für die theoretische Fahrerlaubnisprüfung gemäß § 16 FeV hilfreich sein. All dies rechtfertigt jedoch im Hinblick auf den langen Zeitraum seit der Entziehung der Fahrerlaubnis und vor dem Hintergrund des hohen Gefahrenpotentials, das von Fahrzeugen mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3.500 kg ausgeht, nicht den Verzicht auf die Fahrerlaubnisprüfung zum Nachweis seiner Befähigung.
2. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen sind hinreichende Erfolgsaussichten der Beschwerde zu verneinen, weshalb auch der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung für das Beschwerdeverfahren abzulehnen ist (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 121 Abs. 2 ZPO).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5 und 46.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, Anh. § 164 Rn. 14). Die Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E (Nr. 46.5 des Streitwertkatalogs) sind nicht streitwerterhöhend zu berücksichtigen, da die begehrte Fahrerlaubnis der Klassen C und CE zum Führen von Fahrzeugen der Klassen C1 und C1E berechtigt (§ 6 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 5 und 6 FeV). Bei der Streitwertfestsetzung ist zwar grundsätzlich dem Umstand Rechnung zu tragen, dass eine Vorwegnahme der Hauptsache begehrt wird (vgl. Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs). Da jedoch vorliegend lediglich um die Prüfungsfreiheit und nicht um die Erteilung der Fahrerlaubnis als solche, insbesondere nicht um die Eignung des Antragstellers, gestritten wird, belässt es der Senat im Ergebnis beim Ansatz des Verwaltungsgerichts.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).