VG Köln, Beschluss vom 16.06.2016 - 9 L 1181/16
1. Auf die Eintragung der Fahrerlaubnisentziehung gem. § 2a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StVG nach § 28 Abs. 3 StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung findet nicht die zehnjährige Tilgungsfrist gem. § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVG a.F. Anwendung, sondern die in § 29 Abs. 1 S. 4 StVG a.F. geregelte Tilungungsfrist (wie OVG NRW, Beschluss vom 15. Juli 2010 - 16 A 884/09 -, DAR 2010, 655, juris).
2. Der Ablauf der Tilungsfrist für vor dem 1. Mai 2014 in das Fahreignungsregister eingetragene Taten wird nicht durch ab dem 1. Mai 2014 eingetragene Taten gehemmt.
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage 9 K 4712/16 gegen die Entziehungsverfügung des Antragsgegners vom 18. Mai 2016 wird angeordnet. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
Der Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage 9 K 4712/16 gegen die Entziehungsverfügung des Antragsgegners vom 18. Mai 2016 anzuordnen,
ist zulässig und begründet.
Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers am vorläufigen Aufschub der Vollziehung das öffentliche Interesse an der nach § 4 Abs. 9 StVG gesetzlich vorgeschriebenen sofortigen Vollziehung des Bescheides überwiegt. Diese Interessenabwägung richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Ein überwiegendes Suspendierungsinteresse des Antragstellers kommt dabei regelmäßig nur dann in Betracht, wenn sich der Bescheid bei der im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig darstellt und die sofortige Vollziehung damit nicht im öffentlichen Interesse erforderlich erscheint. Die Ordnungsverfügung, mit der der Antragsgegner dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entzogen hat, wird sich im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtswidrig erweisen.
Die Entziehung der Fahrerlaubnis findet ihre Rechtsgrundlage in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG in der Fassung des am 1. Mai 2014 in Kraft getretenen Gesetzes vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3313), geändert durch Gesetz vom 5. Dezember 2014 (BGBl I S. 1802) - StVG n.F. -. Danach gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen - mit der Folge der zwingenden Entziehung der Fahrerlaubnis -, wenn sich für ihn nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem acht oder mehr Punkte ergeben. Nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG n.F. hat die Behörde für das Ergreifen einer Maßnahme auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG n.F. ergeben sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Nach diesem hier normierten sogenannten Tattagprinzip hat der Antragsteller im Zeitpunkt der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Ordnungswidrigkeit noch keinen Punktestand von acht Punkten erreicht.
Die bis zum 30. April 2014 für den Antragsteller im Fahreignungsregister erfolgten Eintragungen über drei Ordnungswidrigkeiten und eine Fahrerlaubnisentziehung gem. § 2a StVG dürfen nicht mehr berücksichtigt werden, da für sie die Voraussetzungen der Tilgung vorliegen.
Dies gilt zunächst für die Eintragung der Fahrerlaubnisentziehung gem. § 2a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StVG. Gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG werden Entscheidungen, die - wie hier - nach § 28 Abs. 3 StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung im Verkehrszentralregister gespeichert worden sind, nach den Bestimmungen des § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung (StVG a.F.) getilgt und gelöscht. Auf Fahrerlaubnisentziehungen gem. § 2a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StVG findet nach der eindeutigen Rechtsprechung des OVG NRW,
Beschluss vom 15. Juli 2010 - 16 A 884/09 -, DAR 2010, 655, juris,
nicht die zehnjährige Tilgungfrist gem. § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVG a.F. Anwendung, sondern die in § 29 Abs. 1 S. 4 StVG a.F. geregelte Tilgungsfrist, nach der die Tilgung ein Jahr nach Ablauf der Probezeit zu erfolgen hat. Zur Begründung verweist das OVG NRW auf den seiner Ansicht nach eindeutigen Wortlaut der Bestimmung, angesichts dessen der klar geäußerte andere Wille des Gesetzgebers zurücktreten müsse.
Beschluss vom 15. Juli 2010, a.a.O., juris Rn. 3, 8.
Auch wenn das Gericht gewisse Zweifel hat, ob durch diese Rechtsprechung dem System der Tilgungsvorschriften ausreichend Rechnung getragen wird
- es kommt hinzu, dass das Kraftfahrt-Bundesamt in der Praxis der nordrheinwestfälischen Rechtsprechung offenbar nicht folgt, wie sich aus der erfolgten Mitteilung der Eintragungen ergibt -,
schließt es sich aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts an. Der Hinweis der Beklagten auf die Begründung zur nunmehr erfolgten Änderung des § 29 Abs. 1 S. 4 StVG n.F.,
ist nicht geeignet, die dargestellte Rechtsprechung in Frage zu stellen. Der erneut zum Ausdruck gebrachte andere Wille des Gesetzgebers war dem OVG NRW im Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits bekannt; eine Änderung des hier maßgeblichen Wortlauts des § 29 Abs. 1 Nr. 4 StVG a.F. hat der Gesetzgeber gerade nicht vorgenommen.
Die damit maßgebliche Tilgungsfrist von einem Jahr nach Ablauf der Probezeit war demnach hier - ausgehend von dem telefonisch von der Beklagten mitgeteilten Ende der Probezeit am 24. August 2010 - bereits im August 2011 abgelaufen.
Die Voraussetzungen der Tilgung liegen ferner auch für die bis zum Ablauf des 30. April 2014 eingetragenen Ordnungswidrigkeiten vor. Es handelt sich dabei um folgende, insgesamt mit 5 Punkten zu bewertende Taten:
Tattag
Rechtskraft
Punkte
1.
29.09.2011
06.12.2011
2.
27.12.2011
09.03.2012
3.
21.09.2012
21.12.2012
Auch insofern gilt, dass gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG Entscheidungen, die - wie hier - nach § 28 Abs. 3 StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung im Verkehrszentralregister gespeichert worden sind, nach den Bestimmungen des § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung (StVG a.F.) getilgt und gelöscht werden. Grundsätzlich gilt demnach gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG a.F. für Ordnungswidrigkeiten eine Tilgungsfrist von 2 Jahren, die gemäß Abs. 4 Nr. 3 mit dem Tag der Rechtskraft oder Unanfechtbarkeit der Bußgeldentscheidung beginnt. Für das Ende der Tilgungsfrist sieht § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a.F. eine Ablaufhemmung vor. Sind im Register mehrere Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 StVG über eine Person eingetragen, so ist die Tilgung einer Eintragung vorbehaltlich der Regelungen in den Sätzen 2 bis 6 erst zulässig, wenn für alle betreffenden Eintragungen die Voraussetzungen der Tilgung vorliegen. Die Eintragung einer Entscheidung wegen einer Ordnungswidrigkeit wird gem. Abs. 6 Satz 4 spätestens nach Ablauf von fünf Jahren getilgt.
Nach diesen Maßgaben waren die oben aufgeführten Ordnungswidrigkeiten am 21. Dezember 2014 zu tilgen. Hinsichtlich der Taten vom 29. September 2011 und vom 27. Dezember 2011 war die Tilgungsfrist solange gehemmt, bis auch die Tilgungsvoraussetzungen für die zuletzt rechtskräftig gewordene Tat vom 21. September 2012 vorlagen; das war bei Zugrundelegung einer zweijährigen Tilgungsfrist für diese Tat am 21. Dezember 2014 der Fall.
Der Ablauf der Tilgungsfristen für diese Taten wird nicht durch weitere Eintragungen gehemmt.
Eine Hemmung durch die Eintragung der Fahrerlaubnisentziehung aus dem Jahr 2009 scheidet bereits deshalb aus, weil diese nach dem oben Dargestellten bereits im Jahr 2011 zu tilgen war.
Eine weitere Hemmung durch ab dem 1. Mai 2014 eingetragene Taten - hier also z.B. durch die Ordnungswidrigkeit vom 2. März 2014 - kommt nicht in Betracht. Zwar ergibt sich das nicht ohne Weiteres aus dem Wortlaut des § 65 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 StVG, wonach eine Ablaufhemmung nach § 29 Abs. 6 S. 2 StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung nicht durch Entscheidungen ausgelöst werden kann, die erst ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeichert werden. Denn diese Vorschrift nimmt lediglich auf die Sondervorschrift in § 29 Abs. 6 S. 2 StVG a.F., nicht aber auch auf die generelle Regelung der Ablaufhemmung in § 29 Abs. 6 S. 1 StVG a.F. Bezug. Aus dieser Art der Bezugnahme kann aber nicht ohne Weiteres der Schluss gezogen werden, dass die Ablaufhemmung des § 29 Abs. 6 S. 1 StVG auch durch nach neuem Recht erfolgte Eintragungen ausgelöst wird,
so aber Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Auflage, § 29 Rn. 43 ff.
Denn es lässt sich bereits aus dem Wortlaut des § 29 Abs. 6 S. 1 StVG a.F. ableiten, dass neu eingetragene Taten keine Ablaufhemmung auslösen. Diese nur übergangsweise weiter geltende Vorschrift nimmt ihrerseits auf Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 StVG Bezug. Diese Bezugnahme kann sich aber - da auch § 28 StVG inhaltliche Änderungen erfahren hat - nur auf Eintragungen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 StVG in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung - StVG a.F. - beziehen, nicht aber auch auf nach dem 30. April 2014 hinzukommende neue Eintragungen.
Diese Auslegung findet eine weitere Stütze in der Gesetzesgenese. Im ursprünglichen Gesetzesentwurf zu § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG,
BT-Drs. 799/12, S. 16; zur Begründung vgl. S. 97,
war eine uneingeschränkte Verweisung auf § 29 StVG a.F. vorgesehen, mit der Folge, dass auch neue Eintragungen nach Inkrafttreten des Gesetzes eine Tilgungshemmung für alte Entscheidungen hätten auslösen können. Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens erhielt § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG dann jedoch seine heutige Gestalt. Grund war vor allem die Vereinfachung der Registerführung und die Minimierung des Verwaltungsaufwands bei der registerführenden Behörde; die Weiterführung der Tilgungshemmung sollte auf den bei Inkrafttreten der Reform vorhandenen Registerbestand und die bereits ausgelösten Ablaufhemmungen beschränkt werden und Eintragungen nach Inkrafttreten der Reform sollten unabhängig von Tattag und Entscheidungsdatum keine Tilgungshemmung mehr auslösen können.
Die Bezugnahme von § 65 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 StVG nur auf § 29 Abs. 6 S. 2 (und nicht auch auf Satz 1) StVG a.F. ist vor diesem Hintergrund konsequent. Denn während § 29 Abs. 6 S. 1 StVG bereits nach seinem Wortlaut nur auf Alteintragungen anwendbar ist (s.o.), betrifft Satz 2 dieser Vorschrift seinem Wortlaut auch eine "neue Tat", so dass eine Klarstellung geboten war.
Mangels weiterer Entscheidungen, die eine Ablaufhemmung hätten auslösen können, waren die hier streitgegenständlichen Ordnungswidrigkeiten daher am 21. Dezember 2014 zu löschen.
Im Zeitpunkt der zeitlich zuletzt begangenen Ordnungswidrigkeit vom 28. Dezember 2015 wies der Antragsteller daher erst einen Punktestand von (maximal) 7 Punkten auf, wobei jedoch darauf hinzuweisen ist, dass das erneute Ansammeln von Punkten nach der erfolgten Tilgung möglicherweise erneut das Durchlaufen von Maßnahmenstufen nach § 4 Abs. 5 StVG n.F. - eventuell verbunden mit einer Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 StVG n.F. - erforderlich machen wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Der gemäß § 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 GKG festgesetzte Streitwert entspricht der Hälfte des Betrags, der in einem Hauptsacheverfahren für die Entziehung der Fahrerlaubnis anzusetzen ist.