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VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23.10.2015 - 9 K 3467/15

Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F. hat die Fahrerlaubnisbehörde u.a. auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar hinzuweisen. Vom Fahreignungs-Bewertungssystem des § 4 StVG n.F. darf nur in Ausnahmefällen abgewichen werden.

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 22. Juli 2015 wird aufgehoben.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger ist Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen. Im Verkehrszentralregister waren für ihn folgende Entscheidungen gespeichert:

Datum der Tat

Datum der Rechtskraft

Datum der Speicherung

Punkte (alt)

Tatvorwurf (Tatbestandsnummer)

05.10.2004

26.02.2005

07.04.2005

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

27.04.2005

08.07.2005

13.07.2005

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

27.04.2005

12.07.2005

20.07.2005

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

17.04.2007

16.11.2007

12.12.2007

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

14.05.2007

27.07.2007

21.08.2007

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

06.07.2007

04.09.2007

12.09.2007

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

04.03.2008

17.04.2008

08.05.2008

Telefonieren am Steuer (°°°°°)

05.03.2008

18.07.2008

13.08.2008

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

27.06.2008

15.08.2008

03.09.2008

Telefonieren am Steuer (°°°°°)

27.06.2008

15.08.2008

03.09.2008

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

Mit Schreiben vom 22. September 2008 ist der Kläger von der Beklagten verwarnt worden. Die Beklagte wies den Kläger auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Aufbauseminar und die damit verbundene Möglichkeit des Punkteabzugs hin. Sie teilte dem Kläger mit, er werde gestellt, als habe er 11 Punkte.

Hiernach ist für den Kläger folgende Entscheidung in das Verkehrszentralregister eingetragen worden:

Datum der Tat

Datum der Rechtskraft

Datum der Speicherung

Punkte (alt)

Tatvorwurf (Tatbestandsnummer)

08.03.2009

05.05.2009

26.05.2009

Telefonieren am Steuer (°°°°°)

Die Beklagte ordnete mit Schreiben vom 12. Juni 2009 die Teilnahme des Klägers an einem Aufbauseminar an. Die Teilnahmebescheinigung sei bis zum 12. August 2009 einzureichen. Sie teilte dem Kläger mit, dass er so gestellt werde, als habe er 17 Punkte, obwohl im Verkehrszentralregister 19 eingetragen seien.

Danach ist für den Kläger folgende Entscheidung in das Verkehrszentralregister eingetragen worden:

Datum der Tat

Datum der Rechtskraft

Datum der Speicherung

Punkte (alt)

Tatvorwurf (Tatbestandsnummer)

01.04.2009

23.06.2009

25.06.2009

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

Im November 2009 reichte der Kläger eine Bescheinigung über die Teilnahme an einem Aufbauseminar bei der Beklagten ein.

Es folgten weitere (relevante) Eintragungen in das Verkehrszentralregister:

Datum der Tat

Datum der Rechtskraft

Datum der Speicherung

Punkte (alt)

Tatvorwurf (Tatbestandsnummer)

25.08.2011

08.03.2013

30.04.2013

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

28.08.2011

27.03.2012

11.04.2012

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

14.05.2013

22.06.2013

08.07.2013

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

Bei einem Stand von 10 Punkten (alt) ist der Kläger von der Beklagten mit Schreiben vom 17. Juli 2013 verwarnt worden. Es erfolgte kein Hinweis auf die Möglichkeit der freiwilligen Teilnahme an einem Aufbauseminar.

Sodann wurden für den Kläger im Verkehrszentralregister folgende Entscheidungen gespeichert:

Datum der Tat

Datum der Rechtskraft

Datum der Speicherung

Punkte (alt)

Tatvorwurf (Tatbestandsnummer)

02.08.2011

20.02.2013

13.11.2013

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

04.02.2014

12.04.2014

28.04.2014

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

Die Beklagte verwarnte den Kläger mit Schreiben vom 15. Mai 2014 und wies ihn auf die Möglichkeit hin, freiwillig ein Fahreignungsseminar zu besuchen, um sein Verkehrsverhalten zu verbessern. Ein Punktabzug werde dafür nicht gewährt.

Es folgten weitere Eintragungen in das Fahreignungsregister:

Datum der Tat

Datum der Rechtskraft

Datum der Speicherung

Punkte (neu)

Tatvorwurf (Tatbestandsnummer)

15.09.2014

28.04.2015

11.06.2015

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

02.10.2014

21.11.2014

05.12.201

Telefonieren am Steuer (°°°°°)

Mit Schreiben vom 23. Juni 2015 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an.

Danach wurde noch eine weitere Ordnungswidrigkeit in das Fahreignungsregister eingetragen:

Datum der Tat

Datum der Rechtskraft

Datum der Speicherung

Punkte (neu)

Tatvorwurf (Tatbestandsnummer)

03.04.2014

06.01.2015

24.06.2015

Geschwindigkeitsüberschreitung (°°°°°)

Die Beklagte entzog dem Kläger mit Bescheid vom 22. Juli 2015 die Fahrerlaubnis, forderte den Kläger auf, den Führerschein unverzüglich abzuliefern und setzte eine Verwaltungsgebühr in Höhe von 200,00 € zuzüglich Auslagen für die Zustellung des Bescheides in Höhe von 3,45 € fest. Die Beklagte führt in den Bescheid u.a. aus, dass die Fahrerlaubnis gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) zu entziehen sei, wenn sich jemand als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweise. Zum Schutz vor Gefahren, die von wiederholt gegen Verkehrsvorschriften verstoßenden Fahrzeugführern ausgehen, seien Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem des § 4 StVG zu ergreifen. Ergäben sich acht oder mehr Punkte, so gelte der Betroffene gemäß § 4 Abs. 5 Nr. 3 StVG als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Die Fahrerlaubnis sei zu entziehen. Die vorhergehenden Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem seien zuvor durchgeführt worden.

Der Kläger hat am 10. August 2015 Klage erhoben. Er trägt zur Begründung vor: Es werde davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht gegeben seien und er weiterhin zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet sei.

Er beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 22. Juli 2015 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf die angefochtene Verfügung und ergänzt diese in der mündlichen Verhandlung um die Rechtsauffassung, dass der Kläger aufgrund wiederholter Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften unabhängig von der Einhaltung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 5 StVG zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet und die Entziehung der Fahrerlaubnis daher nach § 3 Abs. 1 StVG rechtmäßig sei.

Gründe

Die Einzelrichterin ist zuständig, nachdem ihr der Rechtsstreit mit Beschluss der Kammer vom 25. September 2015 übertragen worden ist, § 6 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Juli 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist nicht gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG in der Fassung vom 28. November 2014 (n.F.) rechtmäßig. Danach gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte ergeben. Die Beklagte darf gemäß § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG n.F. eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 oder 3 StVG n.F. erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG n.F. bereits ergriffen worden ist.

Hier fehlt es an einer vollständigen Maßnahme bereits auf der ersten Stufe nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung (a.F.). Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F. hat die Fahrerlaubnisbehörde den Betroffenen bei einem Stand von acht, aber nicht mehr als 13 Punkten, schriftlich darüber zu unterrichten, ihn zu verwarnen und ihn auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 4 Absatz 8 StVG a.F. hinzuweisen. Mit Schreiben vom 17. Juli 2013 verwarnte die Beklagte den Kläger und listete in der Anlage die zu diesem Zeitpunkt im Verkehrszentralregister gespeicherten drei Eintragungen auf. Der Hinweis auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 4 Abs. 8 StVG a.F. fehlte. Er war nicht entbehrlich. In § 4 StVG a.F. ist keine Ausnahme von der Notwendigkeit dieses Hinweises enthalten. Es kann dahinstehen, ob ein solcher Hinweis entbehrlich ist, wenn die Teilnahme an einem Aufbauseminar nicht zu einem Punkteabzug führen kann. Dieser Fall ist hier nicht gegeben. Nach § 4 Abs. 4 Satz 1 StVG a.F. ist bei einer Teilnahme an einem Aufbauseminar vor Erreichen von 14 Punkten und der Vorlage der Teilnahmebescheinigung innerhalb von drei Monaten nach Beendigung des Seminars der Punktestand zu reduzieren. Der Besuch eines Seminars und die Teilnahme an einer Beratung führen gemäß § 4 Abs. 4 Satz 3 StVG a.F. nur einmal innerhalb von fünf Jahren zu einem Punkteabzug. Dass der Kläger bereits im Jahr 2009 an einem solchen Aufbauseminar teilgenommen hat, hätte einem möglichen Punkteabzug im Jahr 2013 nicht entgegengestanden. Die Teilnahme an dem Seminar im Jahr 2009 führte nicht zu einem Punkteabzug, da der Kläger damals bereits mehr als 13 Punkte erreicht hatte und die Teilnahme angeordnet war. In einem solchen Fall führt die Teilnahme an einem Aufbauseminar nicht gemäß § 4 Abs. 4 Satz 1 StVG a.F. zu einem Punkteabzug.

Die Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F. ist auch nicht deshalb entbehrlich gewesen, weil die Beklagte bereits mit Schreiben vom 22. September 2008 diese Maßnahme vollständig ergriffen hat. Nach der Tilgung aller Eintragungen in das Verkehrszentralregister im Juni 2011 hat der Kläger die erste Stufe des Punktsystems nach § 4 Abs. 3 StVG a.F. im Jahr 2013 erneut aufgrund weiterer Ordnungswidrigkeiten und nicht aufgrund einer Reduzierung des Punktestands wegen Tilgungen von Eintragungen erreicht. Erreicht der Inhaber einer Fahrerlaubnis wiederholt den in § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F. genannten Punktestand infolge zwischenzeitlicher Reduzierung aufgrund Tilgung und erneuten Anstiegs, ist nach dem Wortlaut sowie Sinn und Zweck der Regelung die jeweils vorgesehene Maßnahme erneut zu ergreifen.

Vgl. u.a. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 21. März 3003 - 19 B 337/03 - juris Rn. 9 f.

Mangels rechtmäßiger Maßnahme auf der ersten Stufe, hätte die Maßnahme auf der zweiten Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n.F. noch nicht ergriffen werden dürfen und dementsprechend ist die Entziehung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. (dritte Stufe) noch nicht rechtmäßig möglich gewesen.

Die Entziehung der Fahrerlaubnis mit Bescheid vom 22. Juli 2015 ist auch nicht gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG n.F. i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 Fahrerlaubnisverordnung (FEV) rechtmäßig.

Ausnahmsweise ist das Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Abs. 1 Satz 3 StVG n.F. nicht anzuwenden, wenn sich die Notwendigkeit früherer oder anderer die Fahreignung betreffender Maßnahmen nach den Vorschriften über die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG oder einer aufgrund von § 6 Abs. 1 Nr. 1 StVG erlassenen Rechtsvorschrift ergibt. Damit ist im öffentlichen Interesse sichergestellt, dass ungeeignete Kraftfahrer schon vor Erreichen von acht Punkten im Fahreignungsregister von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr ausgeschlossen werden können oder besondere Eignungszweifel durch weitergehende Maßnahmen, wie z.B. eine medizinischpsychologische Untersuchung, sofort geklärt werden können.

Vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27. Mai 2009 - 10 B 10387/09 -, juris Rn. 5 m.w.N.

Grundsätzlich sieht § 4 Abs. 1 Satz 1 StVG n.F. vor, dass zum Schutz vor Gefahren, die von Inhabern einer Fahrerlaubnis ausgehen, die wiederholt gegen die die Sicherheit und Straßenverkehrs betreffenden Vorschriften verstoßen, die Fahrerlaubnisbehörde die in Absatz 5 genannten Maßnahmen (Fahreignungs-Bewertungssystem) zu ergreifen hat. Dieses System sorgt einerseits für eine gleichmäßige Behandlung von Mehrfachtätern, andererseits räumt es ihnen die Möglichkeit ein, aufgetretene Mängel frühzeitig zu beseitigen. Gleichzeitig nimmt der Gesetzgeber mit dem System in Kauf, dass auch Kraftfahrer am Straßenverkehr teilnehmen, die sogar schwerwiegende Verkehrsverstöße begangen haben. Auch diesen soll die Fahrerlaubnis im Regelfall nicht entzogen werden, bevor ihnen die gesetzlich vorgesehenen Angebote und Hilfestellungen unterbreitet worden sind.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. Dezember 2010 - 16 B 1392/10 -, juris Rn. 9.

Zwar geht mit der Gesetzesänderung des § 4 StVG zum 1. Mai 2014 bzw. zum 5. Dezember 2014 ein Systemwechsel dergestalt einher, dass es nach dem jetzigen Fahreignungs-Bewertungssystem nicht mehr darauf ankommt, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit zur Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Es handelt sich dabei aber nicht um eine generelle Abkehr von dem Erziehungsgedanken, sondern die Erziehungswirkung soll dem Gesamtsystem (weiterhin) zugrunde liegen.

Vgl. Bundestagsdrucksache 18/2775, S. 9.

Um das Fahreignungs-Bewertungssystem zu verlassen und unabhängig von den grundsätzlich anzuwendenden drei Maßnahmenstufen die Fahrerlaubnis rechtmäßig entziehen zu können, sind Umstände notwendig, die den Schluss darauf zulassen, dass der Inhaber der Fahrerlaubnis auch dann nicht zu verkehrsordnungsmäßigem Verhalten zurückfindet, wenn er die präventiven Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem durchlaufen hat. Ausschlaggebend sind die Umstände des Einzelfalles, die nur in eng begrenzten, besonders gelagerten Ausnahmefällen vorliegen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. Dezember 2010 - 16 B 1392/10 -, juris Rn. 11 m.w.N.

Das Erfordernis besonderer Umstände, die eine Entziehung der Fahrerlaubnis ohne Einhaltung der einzelnen Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG n.F. rechtfertigt, ist auch noch nach der Änderung des § 4 StVG zum 1. Mai 2014 bzw. zum 5. Dezember 2014 gegeben. Der Gesetzgeber hat an einem Stufensystem, das grundsätzlich vor der Entziehung einer Fahrerlaubnis einzuhalten ist, festgehalten. Damit bietet das Straßenverkehrsgesetz mit den Instrumenten des § 4 StVG weiterhin bewusst Hilfestellungen an, um dem Inhaber einer Fahrerlaubnis Gelegenheit zu geben, sein Fehlverhalten möglichst frühzeitig selbst zu überprüfen und von sich aus sein Verhalten im Verkehr zu ändern und damit einen Punkteanstieg zu vermeiden, so dass es gar nicht erst zur Entziehung der Fahrerlaubnis kommt.

Vgl. Bundestagsdrucksache 17/12636, S. 19.

Mit der Abkehr von dem Gedanken, dass den einzelnen Maßnahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems eine individuelle Warn- und Erziehungsfunktion zukommt, ist damit nicht die Möglichkeit eröffnet, auch ohne Einhaltung dieser Maßnahmen die Fahrerlaubnis entziehen zu können, wenn nicht besondere Umstände vorliegen.

Solche besonderen Einzelfallumstände liegen hier nicht vor. Der Kläger hat zwar eine Vielzahl von Geschwindigkeitsverstößen sowie andere Verkehrszuwiderhandlungen begangen, auffällig sind aber zum Teil größere Zeitabstände zwischen den Verstößen, auch wenn nicht bekannt ist, ob dies auf eine verkehrsordnungsgemäße Fahrweise des Klägers in der Zwischenzeit zurückzuführen ist oder auf anderen Umständen beruht. Nach der Tat am 1. April 2009 ist der Kläger erst am 2. August 2011 wieder durch zu schnelles Fahren aufgefallen. Aus dem Jahr 2012 ist keine Geschwindigkeitsüberschreitung oder ein anderer Verkehrsverstoß bekannt geworden, aus dem Jahr 2013 ist lediglich eine Geschwindigkeitsüberschreitung im Fahreignungsregister eingetragen und erst im Jahr 2014 sind weitere Taten bekannt geworden. Dies verdeutlicht zwar eine Missachtung der Rechtsordnung insbesondere in Bezug auf Geschwindigkeitsbeschränkungen, ein Verlassen des Fahreignungs-Bewertungssystems, das zur Entziehung der Fahrerlaubnis ohne Einhaltung der Maßnahmen in § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG n.F. führt, rechtfertigt es aber nicht. Eine Mehrzahl nicht unerheblicher Verstöße gegen Verkehrsvorschriften reicht grundsätzlich nicht zur Begründung eines besonders gelagerten Einzelfalls, der ein Verlassen des Fahreignungs-Bewertungssystem rechtfertigt, aus. Die Begehung mehrerer Verkehrsordnungswidrigkeiten ist nämlich schon regelmäßig Voraussetzung dafür, dass der Fahrerlaubnisinhaber überhaupt einen Stand von acht Punkten im Fahreignungsregister, der zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. führen kann, erreicht.

Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27. Mai 2009 - 10 B 10387/09 - juris Rn. 10.

Insbesondere der Umstand, dass der Kläger nach der Tat am 1. April 2009 und nach der im Zeitraum von Oktober bis November 2009 erfolgten Teilnahme an einem Aufbauseminar zunächst (bis zum 2. August 2011) nicht mehr wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung oder einem anderen Verstoß aufgefallen ist, zeigt, dass nicht ohne Weiteres dem Kläger unterstellt werden kann, er werde selbst nach rechtmäßigem Durchlaufen der einzelnen Stufen des Fahreignungs-Bewertungssystems nicht zu einem verkehrsordnungsgemäßen Verhalten zurückfinden, wenn auch dies bisher nur kurzfristig der Fall war. Jedenfalls scheidet aber eine unmittelbare Annahme der Ungeeignetheit nach §§ 3 Abs. 1 StVG, 46 Abs. 1 FEV ohne Ergreifen vorheriger Maßnahmen aus.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2. Februar 2000 - 19 B 1886/99 - juris Rn. 27 (zu dem Fall, in dem fast drei Jahre lang keine im Verkehrszentralregister zu erfassenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen wurde).

Die festgesetzte Verwaltungsgebühr sowie die Geltendmachung der Kosten für die Zustellung des Bescheides sind ebenfalls rechtswidrig, da für eine rechtswidrige Amtshandlung - hier die Entziehung der Fahrerlaubnis - keine Kosten gefordert werden können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.

Lukas Jozefaciuk