VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 19.12.2017 - 7 L 3202/17
Entziehung der Fahrerlaubnis
Tenor
1.Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird auf Kosten des Antragstellers abgelehnt.
2.Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
1. Der sinngemäß gestellte Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers 7 K 11340/17 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 18. Oktober 2017 anzuordnen,
ist gemäß § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –, zulässig, aber unbegründet. Die im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens vorzunehmende Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse an der in § 2a Abs. 6 des Straßenverkehrsgesetzes ? StVG ? gesetzlich vorgesehenen sofortigen Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehungsverfügung überwiegt gegenüber dem privaten Interesse des Antragstellers an einem Vollstreckungsaufschub, weil die Ordnungsverfügung bei summarischer Prüfung rechtmäßig ist. Zur Begründung verweist die Kammer zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen in der angefochtenen Verfügung, denen sie folgt (vgl. § 117 Abs. 5 VwGO).
Gemäß § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG ist demjenigen die Fahrerlaubnis zu entziehen, der nach Ablauf der in Nr. 2 dieser Vorschrift genannten Frist innerhalb der Probezeit eine weitere schwerwiegende oder zwei weitere weniger schwerwiegende Zuwiderhandlungen begangen hat. Wie Zuwiderhandlungen gegen Verkehrsvorschriften zu bewerten sind, wird dabei gemäß § 34 Abs. 1 der Fahrerlaubnis-Verordnung ? FeV ? nach dem Katalog der zugehörigen Anlage 12 bestimmt. Liegen die Voraussetzungen des § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG vor, hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, ohne dass ihr ein Ermessensspielraum eingeräumt wäre.
Die Voraussetzungen der Entziehung gemäß § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG liegen vor.
Erstmals fiel der Antragsteller innerhalb der ursprünglich bis zum 7. Juni 2015 laufenden Probezeit am 28. April 2014 mit einer Geschwindigkeitsübertretung (§§ 41 Abs. 2, 49 Straßenverkehrsordnung – StVO –, § 24 StVG) auf, welche durch Entscheidung vom 10. Juli 2014 (Rechtskraft der Entscheidung: 29. Juli 2014) mit einem Bußgeld von 115,- € geahndet wurde. Es handelt sich hierbei um eine schwerwiegende Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften (Anlage 12 zu § 34 Abs. 1 FeV, Ziffer A.2.1), welche gemäß § 28 Abs. 3 Nr. 3 a) StVG in das Fahreignungsregister einzutragen war. Aufgrund dessen ordnete die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 15. Dezember 2014 die Teilnahme des Antragstellers an einem Aufbauseminar an und setzte ihm hierzu eine Frist von zwei Monaten. Durch die Anordnung des Aufbauseminars gemäß § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StVG verlängerte sich die Probezeit gemäß § 2a Abs. 2a Satz 1 StVG um 2 Jahre, also bis zum 7. Juni 2017.
Nach dem Aufbauseminar beging der Antragsteller eine weitere Ordnungswidrigkeit (Führen eines Kraftfahrzeugs trotz Überschreitung des zulässigen Höchstgewichts) am 19. April 2016. Zudem fiel der Antragsteller am 6. Mai 2016 mit einer weiteren Geschwindigkeitsübertretung (§§ 41, 49 StVO, § 24 StVG) auf, welche durch Entscheidung vom 25. Juli 2016 (Rechtskraft: 16. August 2016) mit einem Bußgeld von 80,- € geahndet wurde. Bei der Geschwindigkeitsübertretung handelte es sich wiederum um eine schwerwiegende Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften (Anlage 12 zu § 34 Abs. 1 FeV, Ziffer A.2.1), welche gemäß § 28 Abs. 3 Nr. 3 a) StVG in das Fahreignungsregister einzutragen war. Gemäß § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StVG verwarnte die Antragsgegnerin den Antragsteller wegen dieser Verstöße mit Schreiben vom 9. Dezember 2016 unter Nennung der Vorschriften und legte ihm nahe, innerhalb von zwei Monaten an einer verkehrspsychologischen Beratung teilzunehmen. An einer solchen nahm der Antragsteller teil und legte der Antragsgegnerin darüber einen Nachweis vor.
Das Kraftfahrt-Bundesamt unterrichtete die Antragsgegnerin durch Mitteilung vom 4. September 2017 darüber, dass der Antragsteller am 11. Mai 2017 mit einem weiteren Verkehrsverstoß (Einfahren auf eine Fahrbahn, ohne die Vorfahrt des auf der durchgehenden Fahrbahn fahrenden Kraftfahrzeugs zu beachten) aufgefallen war (§§ 18 Abs. 3, 49 StVO, § 24 StVG). Auch dieser Verstoß war gemäß § 28 Abs. 3 Nr. 3 a) StVG in das Fahreignungsregister einzutragen und wurde durch Entscheidung vom 26. Mai 2017 (Rechtskraft: 28. Juli 2017) mit einem Bußgeld von 143,- € geahndet. Bei diesem Verstoß handelt es sich – entgegen der Ansicht des Antragstellers – auch um einen schwerwiegenden Verstoß, da dieser als solcher in der Anlage 12 zu § 34 Abs. 1 FeV, Ziffer A.2.1 (die Benutzung von Autobahnen und Kraftfahrstraßen - § 18 Abs. 3 StVO) ausgewiesen ist. Die Anlage 12 zu § 34 Abs. 1 FeV sieht kein Regel-Ausnahme-Verhältnis vor, sondern nimmt eine abschließende Einordnung vor.
Entgegen der Ansicht des Antragstellers ist auch unter Berücksichtigung des tatsächlichen Geschehens am 11. Mai 2017 keine andere Bewertung geboten. Gemäß § 2a Abs. 2 Satz 2 StVG ist die Behörde an rechtskräftige Entscheidungen über Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten gebunden. Eine Überprüfung, ob die rechtskräftigen Entscheidungen rechtmäßig sind, findet im Entziehungsverfahren grundsätzlich nicht statt. Diese gesetzlich angeordnete Bindungswirkung verwehrt den Fahrerlaubnisbehörden ebenso wie den Verwaltungsgerichten i.d.R. eine eigenständige Überprüfung der Richtigkeit der rechtskräftigen Entscheidung wegen des eintragungspflichtigen Verkehrsverstoßes. Der Fahrerlaubnisinhaber ist darauf verwiesen, seine diesbezüglichen Einwendungen im Straf- bzw. Bußgeldverfahren geltend zu machen. Soweit er von den ihm in diesen Verfahren zustehenden Rechtsschutzmöglichkeiten – aus welchen Gründen auch immer – keinen Gebrauch gemacht hat, muss er belastende rechtskräftige Entscheidungen solange gegen sich gelten lassen, wie sie nicht aufgehoben worden sind oder nicht mehr verwertet werden dürfen. Die betreffende Entscheidung ist seit dem 28. Juli 2017 rechtskräftig.
Ob die genannten Vorschriften wegen des Gebots materieller Gerechtigkeit im Einzelfall verfassungskonform dahingehend auszulegen sind, dass fahrerlaubnisrechtliche Maßnahmen unzulässig sind, wenn die im Straf- oder Bußgeldverfahren zulasten des Betroffenen ergangene Entscheidung inhaltlich evident unrichtig ist,
vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2013 – 16 B 904/13 –, juris; OVG NRW, Beschluss vom 31. Juli 2009 ? 16 B 862/09 –, zu § 4 Abs. 3 Satz 2 StVG a. F.; OVG NRW, Beschluss vom 2. Mai 2005 – 16 B 2615/04 –; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 1999 ? 3 Bs 250/99 ?, juris,
bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Die Kammer geht nach der hier gebotenen summarischen Prüfung nicht von einer evidenten Unrichtigkeit der Entscheidung vom 26. Mai 2017 aus, mit der dem Antragsteller ein Bußgeld von 143,- € auferlegt wurde. Soweit der Antragsteller meint, er habe darauf vertrauen dürfen, dass der vorfahrtsberechtigte Lkw-Fahrer ihm die Möglichkeit einräumen werde, nach links auf die rechte Fahrspur aufzufahren, begründet dies keine evidente Unrichtigkeit der Entscheidung. Auf Autobahnen einfahrende Fahrzeugführer dürfen – entgegen der Ansicht des Antragstellers – gerade nicht darauf vertrauen, dass vorfahrtsberechtigte Fahrzeuge auf die übrigen Fahrspuren ausweichen.
Vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., 2017, § 18 StVO, Rn. 17 m.w.N.
Beim Vorliegen der Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG steht der Behörde bei dieser Entscheidung ein Ermessen nicht zu.
Die in Ziffer 2 der Ordnungsverfügung vom 18. Oktober 2017 enthaltene deklaratorische Aufforderung zur Abgabe des Führerscheins (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG) begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
Angesichts der Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung insoweit ist ein Überwiegen des Aussetzungsinteresses des Antragstellers nicht gegeben. Dass das Interesse des Antragstellers, seine Fahrerlaubnis wenigstens bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens nutzen zu können, aus anderen Gründen Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug der Entziehungsverfügung genießt, ist nicht festzustellen. Zwar kann die Fahrerlaubnisentziehung die persönliche Lebensführung und damit die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten des Erlaubnisinhabers gravierend beeinflussen und im Einzelfall bis zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage reichen. Die mit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis verbundenen persönlichen und beruflichen Schwierigkeiten für den Antragsteller muss er als Betroffener jedoch angesichts des von fahrungeeigneten Verkehrsteilnehmern ausgehenden besonderen Risikos für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs und des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz ? GG ? ableitbaren Auftrags zum Schutz vor erheblichen Gefahren für Leib und Leben hinnehmen.
So auch: OVG NRW, Beschluss vom 13. Februar 2015 ? 16 B 74/15 ?, juris m. w. N.
Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 3 der Ordnungsverfügung vom 18. Oktober 2017 enthaltene Zwangsgeldandrohung kommt ebenfalls nicht in Betracht. Sie entspricht den Anforderungen von §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nr. 2, 60, 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen und ist rechtmäßig.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
2. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Gerichtskostengesetz. Der Streitwert eines Klageverfahrens, das die Entziehung einer beruflich genutzten Fahrerlaubnis betrifft, beträgt 10.000,- €, wenn die berufliche Nutzung ? wie bei einem Berufskraftfahrer der Fall ? gerade im Führen eines Kraftfahrzeugs besteht und ist im Eilverfahren zu halbieren.
St. Rspr.: vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Mai 2009 ? 16 E 550/09 ?, juris, Rn. 2 f., vom 8. April 2014 ? 16 B 207/14 ?, juris, Rn. 8 und vom 22. Oktober 2015 ? 16 E 415/15.